Grzimek oder: Die Persistenz kolonialer Episteme im Naturschutz

Die Serengeti als Testfall für Wissenshierarchien
Bernhard Grzimeks Name taucht in zoologischen Fachpublikationen als Referenz auf – die fünfbändige Säugetier-Enzyklopädie von 1990, die siebzehnbändige Animal Life Encyclopedia in zweiter Auflage 2003. Der Frankfurter Zoologe, der 1959 mit seinem Sohn Michael die Serengeti aus der Luft zählte, Zebras und Gnus markierte, die Migration kartographierte, gilt als Popularisierer des afrikanischen Naturschutzes. “Serengeti darf nicht sterben” gewann 1960 den Oscar, erreichte Millionen, machte aus einem ökologischen System eine globale Ikone.
Aus post-westlicher Perspektive stellt sich die Frage: Wessen Wissen ermöglichte diese Kartographie? Wessen Wissen wurde dabei unsichtbar gemacht? Die Maasai kannten die Wanderrouten der Gnus seit Jahrhunderten. Sie nutzten die Serengeti-Ebenen als saisonale Weideflächen, praktizierten Brandrodung zur Vegetationskontrolle, lebten in symbiotischer Koexistenz mit der Megafauna. Dieses verkörperte Wissen – generiert durch Generationen, verfeinert durch praktische Erfahrung, eingebettet in kosmologische Narrative – zählte in Grzimeks epistemologischem Framework als irrelevant.
Was zählte: westliche Luftbildphotographie, quantitative Zählungen, biologische Klassifikationen, ökologische Modelle. Die Serengeti wurde vermessen, benannt, verstanden durch Instrumente europäischer Universitäten. Das traditionelle Wissen der Maasai erschien bestenfalls als pittoreskes Beiwerk, schlimmstenfalls als Bedrohung für den “unberührten” Naturzustand. Diese epistemologische Hierarchie materialisierte sich in konkreter Gewalt: Die Vertreibung der Maasai aus dem heutigen Serengeti-Nationalpark folgte der Logik, die Grzimeks Zählungen legitimierten. Menschen stören die natürlichen Abläufe, Menschen gefährden die Tierpopulationen, Menschen haben hier nichts zu suchen.
Das Konzept der “wilderness” – jener unberührten Natur, die der westliche Naturschutz seit Thoreau und Muir fetischisiert – erforderte die physische Abwesenheit indigener Bevölkerungen. Der Park entstand durch Enteignung, die Schutzzone durch Vertreibung. Was als wissenschaftlicher Naturschutz auftrat, funktionierte als Fortsetzung kolonialer Landnahme mit anderen Mitteln.
Fortress Conservation als bewusste Wahl
Die Kontextualisierung verschärft die Kritik. Während Grzimek 1959-1960 die Serengeti vermisst, arbeitet George Schaller bereits mit epistemologischer Demut. Seine Maxime: “A foreigner doesn’t establish anything.” Schaller sucht Zusammenarbeit mit lokalen Gemeinschaften, integriert traditionelles Wissen in seine Feldforschung, versteht Naturschutz als Prozess mit statt gegen Menschen. Die Differenz zeigt sich in der Grundhaltung: Wo Schaller die eigene Fremdheit zum methodischen Problem macht, operiert Grzimek aus ungebrochener Autorität heraus.
Ab den 1970er Jahren entsteht Community-Based Conservation als systematische Gegenbewegung. Projekte in Namibia, Botswana, Simbabwe konzipieren indigene Gemeinschaften als Träger des Naturschutzes. Das CAMPFIRE-Programm in Simbabwe (ab 1989) überträgt Managementrechte an lokale Dorfräte, generiert Einkommen durch nachhaltigen Wildtiertourismus, verknüpft ökologische Ziele mit sozialer Gerechtigkeit. Die Resultate widerlegen Grzimeks Ansatz empirisch: Namibia verzeichnet zwischen 1982 und 2018 eine Wildtierzunahme von 300%, während Kenia im selben Zeitraum 66% seiner großen Säugetiere verliert.
Ende der 1980er Jahre liegt die Evidenz vor. Fortress Conservation scheitert ökologisch, ökonomisch, sozial. Die akademische Literatur formuliert die Kritik explizit: Mangelnde lokale Beteiligung führt zu Wilderei, Mensch-Tier-Konflikten, systematischer Missachtung von Schutzverordnungen. Der Ansatz reproduziert koloniale Machtstrukturen, privatisiert Gewinne zugunsten westlicher Tourismusunternehmen, sozialisiert Kosten auf lokale Gemeinschaften. Bis in die frühen 1990er Jahre gilt Fortress Conservation als intellektuell delegitimiert – dennoch persistiert das Modell.
Richard Leakey verschärft als Leiter des Kenya Wildlife Service (1989-1994) Grzimeks Logik zur paramilitärischen Eskalation. Shoot-to-kill-Policies gegen Wilderer, militärische Ausrüstung für Ranger, internationale Unterstützung durch westliche NGOs. Die Verteidigung der “unberührten Natur” wird zur bewaffneten Operation. Die internationale Presse feiert den Kampf gegen die Elfenbeinmafia, während strukturelle Probleme – Landrechte, Partizipation, Verteilungsgerechtigkeit – ungelöst bleiben.
Genealogie der Aneignung: Von Terra Nullius zu Wildlife Nullius
Die rechtliche Konstruktion hinter Grzimeks Vertreibung besitzt eine lange genealogische Linie bis ins 16. Jahrhundert: zu den theologischen Debatten der School of Salamanca über indigene Souveränität und zu Hugo Grotius‘ Unterscheidung zwischen appropriierbarem Territorium und gemeinsamen Gütern. Diese Genealogie ist keine lineare Kausalität, vielmehr eine Rekurrenz ähnlicher Argumentationsmuster. Wo das 16. Jahrhundert theologisch operiert, argumentiert das 17. Jahrhundert völkerrechtlich, das 20. Jahrhundert ökologisch – die Struktur der Enteignung bleibt dieselbe.
Francisco de Vitoria hielt 1539 seine Relectio De Indis an der Universität Salamanca – eine Vorlesung, die die Legitimität der spanischen Conquista fundamental in Frage stellte. Die Indigenen Amerikas waren veri domini, wahre Eigentümer ihres Landes, ihre politischen Organisationen waren legitime Souveränitäten, ihre Territorien bewohnt und genutzt. Die spanische Krone konnte sich weder auf päpstliche Schenkung noch auf Entdeckungsrecht berufen. Vitoria lehnte die aristotelische Doktrin der “natürlichen Sklaven” ab, verneinte die Rechtsgrundlage der Eroberung, sprach den Indigenen Rechtsfähigkeit nach römischem Recht zu. Die Konsequenz seiner Argumentation lief auf fundamentale Infragestellung imperialer Legitimität hinaus – auch wenn Vitoria selbst Hintertüren offenhielt bei Verweigerung von Handelsrechten oder Missionszugang.
Die School of Salamanca entwickelte daraus ein Völkerrecht (ius gentium) mit universellem Geltungsanspruch, unabhängig von Religion oder Kultur. Doch die Konstruktion enthielt eine Sollbruchstelle: Die Anerkennung indigener Souveränität war an Bedingungen geknüpft – richtige politische Organisation, angemessene Landnutzung, vernünftige Herrschaftsausübung. Wo diese Standards nicht erfüllt wurden – nach europäischen Maßstäben beurteilt – konnte Landnahme doch legitimiert werden. Die Universalität des Völkerrechts basierte auf partikularen Normen, die als universal ausgegeben wurden.
Hugo Grotius transformierte diese Diskussion 1609 in Mare Liberum ins Handelsrecht. Seine fundamentale Unterscheidung: Land kann appropriiert werden, weil es begrenzt ist, genutzt werden kann, physisch besetzbar bleibt. Das Meer hingegen ist unbegrenzt, erschöpft sich nicht durch Nutzung, entzieht sich der Okkupation. Also bleibt das Meer gemeinsames Gut (res communis), frei für alle Nationen, während Land partikularisiert werden darf.
Diese juristische Konstruktion vollzieht sich zeitgleich mit einer radikalen Umwälzung der Eigentumskonzeption in Europa selbst. Die Transformation – wie sie etwa Sarah Vanuxem für die französische Rechtstradition rekonstruiert hat – verläuft vom römischen dominium als durch Gesetz, Gepflogenheiten, Gerichte legitimierte Teilung zum modernen absoluten Eigentumsrecht. Wo zuvor Eigentum relational gedacht wurde als Netz wechselseitiger Verpflichtungen, etabliert sich ein besitzergreifender Individualismus, der Land als exklusives Objekt individuellen Verfügens behandelt. Die Commons verschwinden als juridische Kategorie.
Die englischen Enclosures – über 5.200 Parliamentary Acts zwischen 1604 und 1914, die etwa 30% der Agrarfläche privatisierten – materialisieren diese Transformation. Bäuerliche Gemeinschaften verlieren jahrhundertealte Nutzungsrechte, erhalten minderwertige Parzellen als Kompensation oder gar nichts. Das offene Feldsystem weicht eingezäunten Privatgrundstücken. Die proklamierte Produktivitätssteigerung geht einher mit massenhafter Verarmung: Vertriebene werden zu landlosen Tagelöhnern, migrieren in Städte oder Kolonien, während sich Landbesitz bei Großgrundbesitzern konzentriert.
Was hier geschieht, ließe sich mit Philippe Descolas Analyse naturalistischer Ontologien beschreiben: eine Konfiguration, die Natur und Kultur als separate Sphären behandelt, wobei Natur zum passiven Objekt menschlicher Aneignung wird. Die Enclosures operieren durch diese Dichotomie. Land erscheint als tote Materie, die durch menschliche Arbeit – Lockes “mixing labor”-Formel – zum Eigentum transformiert wird. Wer Land “verbessert”, erwirbt Anspruch darauf, während traditionelle Nutzungsformen als ineffizient, rückständig, ökonomisch irrational gelten. Die Rhetorik der agricultural improvement verschleiert strukturelle Enteignung als zivilisatorischen Fortschritt.
Das Paradox zeigt sich in Grotius’ Anwendung. Als Rechtsgutachter der Niederländischen Ostindien-Kompanie legitimierte Mare Liberum holländische Expansion durch universelle Freiheitsrechte, während faktisch holländische Chartered Companies eben jene Monopole errichteten, die Grotius den Portugiesen vorwarf. Was Serge Gutwirth und Isabelle Stengers als kosmo-politische Dimension beschreiben würden – die Aufmerksamkeit für konkrete Ökologien der Praktiken, für situierte Beziehungen zwischen Menschen, Tieren, Landschaften – fällt der Abstraktion zum Opfer. Universelle Prinzipien operieren blind gegenüber den Lebensformen, die durch Appropriation zerstört werden.
Die Enclosures vertrieben Schafe, Rinder, Wildtiere ebenso wie Menschen – weil das neue Eigentumsregime keine geteilten Territorien mehr kennt, in denen verschiedene Arten koexistieren. Was Vinciane Despret für zeitgenössische Mensch-Tier-Beziehungen analysiert – die systematische Negation tierischer agency, die Behandlung ihrer Beziehungen zu Landschaften als irrelevant – findet hier seine historische Vorform: Multispecies commons verschwinden zugunsten eines Eigentumsregimes, das ausschließlich menschliche Verfügungsgewalt anerkennt.
Grzimeks Naturschutz setzt diese Logik im ökologischen Register fort. Die Maasai nutzten die Serengeti seit Jahrhunderten – Viehwirtschaft, saisonale Migration, gezielte Feuer zur Vegetationssteuerung. Diese Nutzung galt Grzimek als falsche Nutzung, als Bedrohung für die “unberührte Natur”, als ökologisch gefährlich. Die Konstruktion der Serengeti als wilderness funktioniert strukturell analog zur Terra-Nullius-Doktrin: Land mit indigener Nutzung wird als ökologisch vakant behandelt, als Territorium, das wissenschaftlicher Standards bedarf.
Die analytische Parallele ließe sich als Wildlife Nullius fassen – eine Konstruktion, die ökologisch “gefährdetes” Territorium westlicher Expertise unterstellt, analog zur juristischen Fiktion unbewohnten Landes. Wo im 16. Jahrhundert fehlende politische Organisation Landnahme legitimierte, legitimiert im 20. Jahrhundert fehlende Konservierungs-Kompetenz die Vertreibung.
Grzimek argumentiert: Die Serengeti gehört der gesamten Menschheit, ist globales Erbe, transzendiert nationale Souveränität. Faktisch bedeutet das: Maasai verlieren Zugangsrechte, westliche Touristen erhalten sie, internationale Conservation-NGOs übernehmen Management, tansanische Staatsapparate setzen Restriktionen durch. Die “Menschheit”, für die bewahrt wird, entpuppt sich als Chiffre für zahlungskräftige westliche Konsumenten.
Vitoria anerkannte indigenes Eigentum, Grotius unterschied es von Herrschaft (imperium) – Grzimek entzieht beides. Die Maasai verlieren Besitz und Kontrolle zugunsten einer Verwaltung, die sich als neutral präsentiert, faktisch aber westliche Interessenlagen implementiert. Der Park generiert Einnahmen durch Tourismus; der Gewinn fließt an staatliche Institutionen und internationale Unternehmen, die Kosten – Ernteausfälle durch Elefanten, Viehverluste durch Raubtiere, Landverzicht – tragen lokale Gemeinschaften.
Die epistemologische Gewalt und ihre Fortsetzung
Für die Tiānwèn Akademie wird die Persistenz dieser Argumentationsmuster zum Exempel: Trotz verfügbarer Alternativen, trotz empirischer Widerlegung, trotz ethischer Delegitimierung setzt sich die Praxis fort. Grzimek wählte seinen Weg, während Schaller bereits anders arbeitete. Die Kritik an Fortress Conservation war zeitgenössisch verfügbar, Community-Based Conservation existierte als Alternative. Die Evidenz sprach gegen das Modell – die Praxis ignorierte sie.
Diese Fortsetzung basiert auf einer Wissenshierarchie, die westliche Wissenschaft als objektiv, neutral, universell konstruiert, während indigenes Wissen als lokal, subjektiv, vormodern abgewertet wird. Zählungen aus dem Flugzeug gelten als präzise, Beobachtungen der Maasai-Hirten als anekdotisch. Ökologische Modelle aus Frankfurt erscheinen als fundiert, traditionelle Landnutzungspraktiken als destruktiv. Diese Hierarchie operiert durch systematische Unsichtbarmachung: Maasai-Wissen taucht in Grzimeks Publikationen als Leerstelle auf, als abwesender Referent, als nicht-erwähnte Voraussetzung der eigenen Forschung.
Die Filme perfektionieren diese Auslöschung. “Serengeti darf nicht sterben” zeigt eine Landschaft voller Tiere, leer von Menschen. Die Bedrohung kommt von außen, von Siedlern, Wilderern, einer abstrakt bleibenden “Bevölkerungsexplosion”. Die Maasai verschwinden aus dem Bild. Ihre Vertreibung wird zur Notwendigkeit, ihre Abwesenheit zur Voraussetzung für den Erhalt des “ursprünglichen” Zustands. Der Film schafft eine resiliente Protagonistin – die Serengeti selbst – während er die Menschen, die sie bewohnten, zu Antagonisten degradiert oder gänzlich eliminiert.
Diese Struktur reproduziert die koloniale Fantasie von Afrika als leerem Raum, als unberührter Natur, als gigantischem Zoo für westliche Konsumption. Der Naturschutz übersetzt Terra-Nullius-Doktrinen ins ökologische Register: Land, das von “primitiven” Gemeinschaften genutzt wird, gilt als ökologisch gefährdet, als schutzbedürftig gegen menschliche Präsenz. Die Vertreibung wird zur Rettung umgedeutet, die Enteignung zur Bewahrung.
Die Unmöglichkeit neutraler Vermittlung
Das Problem des “ehrlichen Maklers” verschärft sich bei Grzimek. Seine Biographie – aufgewachsen im Kaiserreich, sozialisiert in der Weimarer Republik, tätig während des NS-Regimes – prägt eine Haltung paternalistischer Gewissheit. Er spricht über afrikanische Länder, ihre Regierungen, ihre Bevölkerungen mit der Selbstverständlichkeit dessen, der weiß, was richtig ist. Die Rhetorik oszilliert zwischen väterlicher Sorge und belehrender Autorität: Afrika muss geschützt werden vor sich selbst, die Serengeti muss gerettet werden vor den Afrikanern, die Natur muss bewahrt werden gegen die Menschen.
Diese Haltung versteht sich selbst als neutral, objektiv, wissenschaftlich – während sie strukturell die Machtasymmetrie zwischen globalem Norden und globalem Süden reproduziert. Wer westlich sozialisiert ist, wer aus europäischen Institutionen heraus agiert, wer Zugang zu internationalen Medien, Fördergeldern, politischen Netzwerken hat, kann nicht neutral vermitteln zwischen diesen Polen. Die Neutralität ist selbst bereits Position, die Objektivität bereits Standpunkt. Grzimeks Naturschutz funktioniert als Interessenvertretung – nicht primär der Tiere, vielmehr eines spezifischen Naturverständnisses, das westliche Tourismusinteressen mit ökologischen Argumenten legitimiert.
Die Finanzierungsstruktur zeitgenössischen Naturschutzes setzt diese Logik fort. Westliche NGOs – WWF, Nature Conservancy, Conservation International – operieren mit Budgets, die nationale Parks in Afrika alimentieren, während die Entscheidungsgewalt über Schutzmaßnahmen bei internationalen Experten liegt. Neokoloniale Konfiguration: Kapital aus dem Norden gegen Landnutzungsrechte im Süden, westliches Management-Know-how gegen lokale Compliance, internationale Standards gegen indigene Praktiken. Die Maasai haben heute mehr formale Rechte als zur Zeit ihrer Vertreibung – doch die faktische Kontrolle über ihr angestammtes Territorium bleibt bei Institutionen, deren Entscheidungslogik Grzimeks Ansatz fortsetzt.
Naturschutz als Fortsetzung extraktiver Verhältnisse
Die Parallelität zwischen kolonialem Rohstoffabbau und touristischem Naturschutz zeigt sich systematisch. Beide Modelle extrahieren Wert aus afrikanischen Territorien zugunsten westlicher Konsumenten – dort Mineralien, hier Erlebnisse; dort Plantagen, hier Safari-Lodges; dort Zwangsarbeit, hier Verdrängung. Die Logik: Landaneignung durch externe Akteure, Legitimation durch Modernisierungsnarrative, Externalisierung sozialer Kosten auf lokale Bevölkerungen, Privatisierung ökonomischer Gewinne zugunsten internationaler Investoren.
Grzimeks Naturschutz funktioniert als Teil dieser extraktiven Kontinuität. Die Serengeti wird zur touristischen Ressource transformiert, deren Wert durch künstlich hergestellte Knappheit – Zugangsrestriktionen – maximiert wird. Der Park generiert Einnahmen durch Eintrittsgelder, Konzessionen an Tourismusunternehmen, internationale Fördergelder. Diese Einnahmen fließen primär an staatliche Institutionen, westliche Reiseveranstalter, internationale Conservation-NGOs. Die vertriebenen Maasai erhalten keine Kompensation, angrenzende Gemeinschaften tragen die Kosten für Mensch-Tier-Konflikte, lokale Ökonomien haben keine Teilhabe am generierten Wert.
Die ökologische Argumentation verschleiert diese ökonomische Dynamik. Artenschutz, Biodiversität, Ökosystemdienstleistungen – diese Konzepte präsentieren sich als universal, als im Interesse der gesamten Menschheit operierend. Doch wessen Interessen werden priorisiert? Westliche Touristen können die Serengeti erleben, Maasai-Hirten dürfen sie nicht betreten. Internationale Conservation-Organisationen definieren Management-Pläne, lokale Gemeinschaften werden konsultiert – als Feigenblatt für Entscheidungen, die bereits gefallen sind. Die Biodiversität wird geschützt für eine Zukunft, die primär den globalen Norden meint, wenn von “kommenden Generationen” die Rede ist.
Dekolonisierung als epistemologisches Projekt
Für die Tiānwèn Akademie ergibt sich aus der Grzimek-Analyse eine systematische Agenda. Die Dekolonisierung von Wissensproduktion kann sich nicht in Einzelfallkritik erschöpfen – sie muss die Argumentationsstrukturen analysieren, die Enteignung legitimieren. Fünf Dimensionen sind zentral:
Die Frage nach wissensökologischer Autorität: Wessen Wissen zählt als Wissen? Die Differenz zwischen Grzimeks quantitativen Zählungen und Maasai-Hirten-Beobachtungen liegt in institutioneller Anerkennung, in der Möglichkeit zu publizieren, in der Autorität zu definieren, was als wissenschaftlich gilt. Die Dekolonisierung erfordert Anerkennung erkenntnistheoretischer Pluralität, Infragestellung westlicher Objektivitätsansprüche, Analyse der Machtverhältnisse, die bestimmte Wissensformen privilegieren.
Die Frage nach Problemdefinition: Dass Menschen in der Serengeti als Problem erscheinen, ist selbst bereits Resultat einer spezifischen Naturkonzeption. Indigene Kosmologien kennen oft keine scharfe Trennung zwischen Mensch und Natur, vielmehr verstehen sie Menschen als Teil ökologischer Systeme. Die Dekolonisierung erfordert Infragestellung dieser Dichotomie, Analyse alternativer Ontologien, Respekt für Weltanschauungen, die Mensch-Natur-Verhältnisse anders konfigurieren.
Die Frage nach Machtasymmetrie: Grzimeks Filme, seine internationale Reputation, sein Zugang zu Fördergeldern, seine Position als Zoodirektor – all dies ermöglichte die Durchsetzung seiner Agenda gegen die Interessen der Maasai, die über keine vergleichbaren Ressourcen verfügten. Die Dekolonisierung bedeutet Analyse dieser Machtverhältnisse, Kritik an der Verschleierung ökonomischer Interessen durch ökologische Rhetorik, Solidarität mit Kämpfen um Landrechte und epistemische Gerechtigkeit.
Die Frage nach Zukunftsgestaltung: Wenn Naturschutz “für kommende Generationen” betrieben wird – welche Generationen sind gemeint? Die Formulierung suggeriert Universalität, verbirgt aber die selektive Adressierung westlicher Publika. Die Dekolonisierung erfordert Infragestellung dieser Universalisierungen, Analyse der ökonomischen Profiteure, Forderung nach Verteilungsgerechtigkeit statt paternalistischer Bewahrung.
Die Frage nach marginalisierten Alternativen: Community-Based Conservation existiert seit den 1970er Jahren, zeigt empirisch überlegene Resultate, wird aber systematisch marginalisiert. Die Dominanz von Fortress Conservation trotz besserer Alternativen verweist auf die Persistenz kolonialer Strukturen. Die Dekolonisierung bedeutet Sichtbarmachen dieser Alternativen, Amplifikation indigener Stimmen, Unterstützung für Ansätze, die Kontrolle über Territorien an lokale Gemeinschaften zurückgeben.
Die Unerledigtheit der Vergangenheit
Grzimeks Fall zeigt: Vergangenheitsbewältigung ist unabgeschlossen, solange Strukturen persistieren. Die Kritik an NS-Kontinuitäten in seiner Rhetorik – Rassenlehre-Termini, völkische Naturvorstellungen, autoritärer Paternalismus – bleibt unvollständig, wenn sie biographisch verharrt. Die relevanten Fragen lauten: Wie setzen sich diese Denkmuster fort in zeitgenössischen Conservation-Projekten? Wie reproduziert sich koloniale Logik in ökologischen Argumentationen? Wie funktioniert Naturschutz als Fortsetzung extraktiver Verhältnisse mit grünem Anstrich?
Die Akademie praktiziert negative Wissensanalyse – die Kultivierung von Unwissen, die Anerkennung denktheoretischer Grenzen, die Demut gegenüber fremden Wissensformen. Grzimek operierte aus der Gewissheit westlicher Wissenschaft heraus, aus der Position dessen, der weiß, was zu tun ist. Diese Gewissheit ist das Problem. Die Alternative liegt in erkenntniswissenschaftlicher Zurückhaltung: Anerkennung der eigenen Fremdheit, Respekt vor lokalen Expertisen, Verzicht auf autoritäre Problemlösungen, die über Betroffene hinweg implementiert werden.
Die Dekolonisierung von Naturschutz bedeutet konkret: Infragestellung des wilderness-Konzepts, Anerkennung indigener Landrechte, Teilhabe an ökonomischen Erträgen, Mitbestimmung über Schutzmaßnahmen, Integration traditionellen Wissens, Respekt für alternative Ontologien. Diese Forderungen sind formuliert seit Jahrzehnten – ihre Nicht-Umsetzung verweist auf die Stabilität kolonialer Machtstrukturen, auf die Resistenz westlicher Institutionen gegen Machtverlust, auf die Fortsetzung extraktiver Logiken unter ökologischem Vorzeichen.
Grzimeks Vermächtnis bleibt ambivalent. Seine Popularisierung des Naturschutzes erreichte Millionen, seine Enzyklopädie dient bis heute als Referenz, sein Engagement für Artenschutz war authentisch. Doch diese Errungenschaften basieren auf wissensökologischer Gewalt, auf systematischer Negation indigener Rechte, auf der Reproduktion kolonialer Hierarchien. Die post-westliche Perspektive erfordert: beides zu sehen, ohne das eine gegen das andere zu relativieren. Die wissenschaftlichen Leistungen anerkennen, die strukturelle Gewalt analysieren, die Kontinuitäten kritisieren – als Beitrag zu einem Naturschutz, der sich seiner kolonialen Wurzeln bewusst wird und alternative Wege beschreitet.
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Anmerkung: Diese Literaturliste erfasst die im Text direkt erwähnten oder implizit verwendeten Quellen. Für einige Referenzen (z.B. spezifische Schaller-Zitate, genaue Statistiken zu Namibia/Kenia) wären weitere Primärquellen zu recherchieren, die hier aus den verfügbaren Rechercheergebnissen rekonstruiert wurden.
