Cuetlaxochitl im Biomüll
Eine Weihnachtsgeschichte

I.
Dienstagvormittag, kurz nach zehn. Ich stehe vor dem Lidl-Regal und starre auf diese roten Dinger, die meine Großmutter noch Weihnachtssterne nannte, obwohl sie nie nach Sternen aussahen, eher nach botanischem Notfall, nach verzweifeltem Versuch der Natur, unter Neonlicht nicht komplett die Fassung zu verlieren. Neunundneunzig Cent das Stück – eine Pflanze, die 5800 Kilometer eingeflogen wurde, in beheizten Gewächshäusern aufgezogen, deren Vorfahren die Azteken als heilig verehrten, und jetzt steht sie hier zwischen Tiefkühlpizza und Glühwein-Sonderangebot. Das Rot trug mal die Energie der Opferblutgötter, jetzt trägt es Barcode und Preisschild – Endpunkt einer Jahrhunderte währenden Reise, falls man das überhaupt eine Reise nennen will.
Neben mir greift eine Frau zu, prüft kurz die Blätter auf Schädlinge – das hat sie mal im Fernsehen gesehen, in einer dieser Sendungen, die aus Warenkenntnis Emanzipation machen –, stellt das Ding in ihren Einkaufswagen zwischen Discounter-Prosecco und Lebkuchen-Eigenmarke. Binnen weniger Wochen wird die Pflanze tot sein, zu dunkel, zu trocken, zu kalt im Flur, aber das kostet ja nichts. Der Tod ist im Kaufpreis bereits einkalkuliert.
Ich kaufe trotzdem einen, für die Recherche natürlich, immer für die Recherche, als würde das die Komplizenschaft irgendwie entschärfen. Man muss das Zeug anfassen, um zu verstehen, wie aus einem Symbol der Reinheit ein Wegwerfprodukt wurde, dessen Kulturgeschichte koloniale Aneignung wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbar macht. Ich lache. Klingt gesünder.
Die Pflanze in meiner Hand hat eine Geschichte. Steht nicht auf dem Preisschild.
II. Cuetlaxochitl
In den Hochebenen Mittelamerikas, irgendwo zwischen pazifischer Küste und guatemaltekischem Grenzland, wuchs sie wild – fünf Meter hoch, leuchtend rot, völlig unbeeindruckt von der Frage, ob das irgendwen interessieren würde. Die Azteken nannten sie Cuetlaxochitl, Lederblume, und das war keine poetische Metapher, sondern botanische Pragmatik: Die Hochblätter lieferten violetten Farbstoff, der Milchsaft heilte Fieber, das intensive Rot galt als Speicher ritueller Energie. Man verband die Pflanze mit Menschenopfern, deren Blut sich symbolisch in den Blättern manifestierte – eine Kosmologie, in der Gewalt, Schönheit und göttliche Ordnung so untrennbar verschmolzen waren, dass man sie nicht auseinanderdenken konnte, ohne das ganze System zu zerstören.
Dann kamen die Spanier, sahen, katalogisierten, wandelten Lebendiges in Taxonomie um. Francisco Hernández de Toledo, Leibarzt Philipps II., beschrieb sie 1651 erstmals für Europa – medizinisch interessant, ästhetisch bemerkenswert, theologisch problematisch. Die Franziskaner brauchten anderthalb Jahrhunderte, um sich zu entscheiden, was eine bemerkenswert lange Bedenkzeit ist für Leute, die sonst ziemlich schnell wussten, was gottgefällig war und was nicht. Erst zu heidnisch für christliche Altäre, dann doch brauchbar für Altardekoration, schließlich unentbehrlich. Man musste die Heiden bekehren, und was eignet sich besser zur Bekehrung als ihre eigenen Symbole, umgedeutet, christianisiert, so gründlich entkernt, dass nur noch die Form blieb.
Alexander von Humboldt schleppte 1804 das erste lebende Exemplar nach Berlin, weil die großen Entdecker immer etwas mitbringen mussten – als Beweis, als Trophäe, als Beutestück, als physische Manifestation ihrer Überlegenheit über das Vorgefundene. Johann Friedrich Klotzsch taufte sie dreißig Jahre später auf Euphorbia pulcherrima, die Schönste der Wolfsmilchgewächse, und damit verschwand Cuetlaxochitl hinter lateinischer Nomenklatur wie hinter einem Vorhang. Taxonomische Auslöschung als Vorstufe kommerzieller Verwertung – bewährtes Verfahren, funktioniert bis heute.
III. Poinsett, Ecke & die Geburt des Kitschs
Joel Roberts Poinsett – US-Botschafter in Mexiko, Hobbybotaniker, Mann mit jenem speziellen Sinn für symbolische Aneignung, den erfolgreiche Imperialisten so oft an den Tag legen – importierte 1828 Exemplare nach South Carolina, und die Pflanze erhielt seinen Namen, nicht etwa eine indigene Herkunftsbezeichnung, nicht das aztekische Erbe, nur den Nachnamen eines weißen Diplomaten, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und das Richtige aus der Erde riss.
Dann kam die Familie Ecke. Hier wird es richtig interessant, weil sich hier zeigt, wie man aus botanischer Aneignung ein Geschäftsmodell macht, das drei Generationen trägt. Albert Ecke, deutscher Auswanderer mit Gespür für Marktlücken, entdeckte um 1900 wild wachsende Sträucher in Südkalifornien und verkaufte Schnittblumensträuße. Sein Sohn Paul begriff die eigentliche Marktmechanik – brillant in ihrer Schlichtheit: Man verschenkt die Dinger an Fernsehsender und Frauenzeitschriften, wartet zwei Dekaden, bis sich die Assoziation Weihnachten/Poinsettie neuronal so tief eingebrannt hat, dass niemand mehr weiß, wie das eigentlich angefangen hat, und kassiert dann.
In den 1950ern gelang die Züchtung handlicher Topfpflanzen-Varianten – handlich, weil die Leute eben keine fünf Meter hohen Sträucher in ihren Wohnzimmern haben wollen, sondern Deko-Objekte, die zwischen Fernseher und Esstisch passen, ohne das Raumgefühl zu stören oder grundsätzliche Fragen nach der Vereinbarkeit von Natur und Kleinbürgerlichkeit aufzuwerfen.
Heute kontrolliert die Familie Ecke 70 Prozent des US-Markts und die Hälfte des Weltmarkts – eine einzige Familie macht aus einer mexikanischen Wildpflanze ein globales Weihnachtssymbol, patentiert Züchtungen, optimiert Supply Chains, etabliert ein Quasi-Monopol. Die Pflanze, die den Azteken heilig war, wird zur Handelsware. Spätkapitalistische Standardgeschichte. Nur diesmal in Rot.
IV. Die Legende der armen Pepita
Die Mexikaner haben eine Legende erfunden, oder man hat sie ihnen eingeredet – wahrscheinlich im 17. Jahrhundert, als die franziskanische Christianisierung auf Hochtouren lief: Zwangsbekehrung, Folter, das ganze Repertoire. Es geht um ein armes Mädchen, Pepita oder manchmal María genannt, das zur Weihnachtskrippe kein Geschenk mitbringen konnte, weil Armut ja bekanntlich der beste Nährboden für spirituelle Läuterung ist. Sie sammelte Unkraut vom Straßenrand, legte es vor die Krippe. Die Pflanzen verwandelten sich in leuchtend rote Weihnachtssterne – ein Wunder, bei diesen Geschichten muss es immer ein Wunder sein.
Klassisches Wundertransformations-Narrativ: Armut wird durch spirituelle Aufrichtigkeit kompensiert, materielle Unzulänglichkeit durch göttliche Intervention überschrieben, und die Theologen liebten das, weil es so wunderbar die bestehenden Machtverhältnisse stabilisierte. Das sternförmige Blattmuster – Stern von Bethlehem. Die rote Farbe – Blut Christi. Man konnte perfekt an die aztekische Opferblut-Assoziation anknüpfen, musste sie bloß ins Christliche überführen, aus ritueller Gewalt Erlösungstheologie machen, aus kosmischem Kreislauf linearen Heilsplan. Die Pflanze durfte bleiben, musste allerdings ihre Bedeutung wechseln wie ein Überläufer die Uniform.
Synkretistische Zeichenökonomie, wie sie die Kirche seit zweitausend Jahren praktiziert mit der Präzision eines gut geführten Konzerns: Man nimmt den Leuten ihre Symbole weg, gibt sie ihnen umgedeutet zurück, nennt das dann Bekehrung.
Der 12. Dezember, an dem Mexiko die Virgen de Guadalupe feiert – selbst eine synkretistische Überformung indigener Göttinnenkulte –, wurde zum Poinsettia Day. Geschichtsschreibung als Palimpsest. Jede neue Tinte löscht die vorherige aus. Spuren schimmern durch, die niemand mehr entziffern kann.
Das steht natürlich nicht auf dem Etikett am Lidl-Regal. Darauf steht: „Herkunft: Ostafrika. Fair Trade zertifiziert.“
V. Die afrikanische Connection
Heute werden die Stecklinge in Uganda, Äthiopien und Kenia produziert – Fair-Trade-zertifiziert, versteht sich, weil wir ja alle ein gutes Gewissen beim Konsum brauchen, irgendeine Form von moralischer Absolution, die uns erlaubt weiterzumachen wie bisher. Das Label suggeriert Gerechtigkeit, Augenhöhe, postkoloniale Wiedergutmachung, aber es ist nur Label-Kosmetik für ein System, das im Kern genauso funktioniert wie vor dreihundert Jahren, nur mit besserer PR.
Die Wertschöpfung läuft klassisch ab, könnte aus dem Lehrbuch stammen, wenn es ehrliche Lehrbücher über Kolonialismus gäbe: Afrika liefert Rohstoffe – in diesem Fall Jungpflanzen, früher waren es Sklaven, aber das Prinzip bleibt dasselbe. Europa veredelt sie in beheizten Gewächshäusern, setzt Wuchshemmstoffe ein, manipuliert Lichtverhältnisse, verkauft das Endprodukt zu Phantasiepreisen, während die Arbeiter in Ostafrika Mindestlohn kriegen und die Gärtnereien in Niedersachsen den Schnitt machen.
Die Rechnung geht so: Europäische Gärtnereien bestellen im Januar, bis Mai oder Juni pflegen, ernten und verpacken Tausende Arbeitskräfte in Afrika, dann fliegen die Stecklinge per Luftfracht über 5800 Kilometer nach Europa, wo sie in sechs bis acht Wochen zu verkaufsfertigen Pflanzen heranwachsen, Hauptauslieferungszeit ist die Woche vor dem ersten Advent, und das ganze System funktioniert nur, weil Lohnkosten in Afrika niedrig sind, Umweltauflagen locker, der Transport billiger als die Alternative – nämlich Mutterpflanzen ganzjährig in beheizten europäischen Gewächshäusern zu halten. Die logische Fortsetzung kolonialer Extraktionslogik unter veränderten Vorzeichen, Fair-Trade-Zertifikat als moderne Ablassurkunde.
VI. Torf, CO₂ und die Ökobilanz
Jeder Weihnachtsstern mit zehn Zentimeter Topfdurchmesser enthält so viel Torf, dass beim Abbau 25 Liter CO₂ freigesetzt werden – bei 35 Millionen verkauften Pflanzen jährlich entspricht das etwa 30.000 Kubikmeter Torfverbrauch. Was das bedeutet, wird klar, wenn man sich klarmacht, dass wir hier Moore trockenlegen, also genau jene Ökosysteme zerstören, die mehr Kohlenstoff speichern als alle Wälder der Erde zusammen, um Billigsubstrat für Wegwerfpflanzen zu gewinnen, die nach drei Wochen im Biomüll landen. Die Rechnung funktioniert.
Die Stecklinge fliegen aus Ostafrika ein, 5800 Kilometer. In beheizten Gewächshäusern – konstant 17 bis 20 Grad über die gesamte Saison, egal was draußen passiert – wachsen sie zu verkaufsfertigen Pflanzen heran. Der Energieverbrauch für Heizung allein ist erheblich, aber dann kommt noch die künstliche Verdunkelung dazu, denn ab Oktober werden die Pflanzen täglich zwölf Stunden abgedunkelt, damit die Kurztagspflanze überhaupt farbige Hochblätter ausbildet. Licht aus, Licht an, Licht aus – ein Rhythmus, den die Natur nicht kennt, den der Markt aber fordert, weil grüne Blätter sich schlecht verkaufen.
Pestizide, Fungizide, Wuchshemmstoffe – die konventionelle Produktion setzt auf Chemie wie andere Leute auf Kaffee setzen. Pflanzen, die als Jungpflanzen in Afrika herangezogen werden, erhalten teils Pestizide, die in Europa aus gesundheitlichen Gründen illegal sind, die Rückstände bleiben, niemand prüft genau. Wer erwartet schon, dass eine 99-Cent-Pflanze frei von Schadstoffen ist.
Das EU-geförderte „HessenStern“-Projekt – Budget: 400.000 Euro, was ungefähr so viel ist wie das Jahresgehalt zweier mittelständischer Manager – testet torfreduzierte Substrate aus regionalen Holzfasern, Schlupfwespen statt Pestizide, präzises Gießmanagement statt Wuchshemmstoffe, und die Zahlen sind tatsächlich besser, die Pflanzen gesünder, die Ökobilanz weniger katastrophal, aber sie sind auch teurer, und der Marktanteil bleibt marginal, weil der Lidl-Kunde eben keine Nachhaltigkeitsversprechen kauft, sondern rote Deko für 99 Cent.
VII. Die Discounter-Ökonomie
Die Pflanze wird in Deutschland jährlich zu unwirtschaftlichen Preisen angeboten, zu Preisen unter den Produktionskosten – das ist kein Fehler im System, sondern das System selbst: Sie dient nicht der direkten Gewinnerzeugung, sie zielt darauf, Kunden anzulocken, das klassische Verlustführer-Prinzip, wie es im Lehrbuch steht. Lidl verkauft Mini-Sterne ab 99 Cent, die Kalkulation ist simpel und brillant zugleich – mit Verlust verkaufen, Kundenfrequenz erhöhen, Zusatzverkäufe generieren, und die Pflanze degradiert zum Köder für den eigentlichen Umsatz, die eigentliche Marge liegt im Folgeverkauf von Glühwein, Lebkuchen und Festtagsbraten.
Alle großen Discounter und Baumärkte führen Weihnachtssterne, überall diese roten Dinger, und die Massenanzucht hat sie so schnell ersetzbar gemacht, dass niemand mehr über die einzelne Pflanze nachdenkt – austauschbar, wegwerfbar, ein botanisches Einwegprodukt wie Plastikgeschirr oder Papierservietten. Deutschland produziert jährlich etwa 20 Millionen Weihnachtssterne in heimischen Gärtnereien, importiert weitere 10 bis 15 Millionen, fast jede fünfte in Deutschland produzierte Zimmerpflanze ist eine Poinsettie. Der Verkaufszeitraum beschränkt sich auf acht Wochen, dann landen die Pflanzen im Biomüll, und die Gärtnereien bereiten die nächste Charge vor.
Die meisten Weihnachtssterne überleben das Wohnzimmer nicht – das Wohnzimmer ist ihr Grab, zu dunkel, zu kalt, zu viel oder zu wenig Wasser, die Pflanze reagiert empfindlich auf Zugluft und Temperaturschwankungen, massenhafter Blattabwurf, dann der Müll. Die Verkaufsstrategie der Discounter transformiert die Poinsettie vom botanischen Objekt zum temporären Dekorationsartikel, der niedrige Preis rechtfertigt die kurze Halbwertszeit, man kauft keine Pflanze, man kauft drei Wochen rote Farbe.
Die Frage ist: Wie macht man aus einem fünf Meter hohen Strauch ein handliches Regalprodukt?
VIII. Biologische Manipulation
Die kommerziellen Pflanzen unterscheiden sich fundamental von Wildformen, und zwar nicht durch natürliche Züchtung, sondern durch absichtliche Infektion mit Mikroorganismen – Phytoplasmen, die für buschartigen Wuchs sorgen, Verzweigung fördern, Fortpflanzung hemmen, Samenbildung verhindern. Die Pflanze wird steril gehalten, damit sie ins Regal passt, damit sie den Erwartungen entspricht, die der Markt definiert hat, ohne die Pflanze zu fragen, ob sie damit einverstanden ist.
Die Pflanze wehrt sich noch ein bisschen. Ihr Milchsaft enthält Latex, der bei Hautkontakt Reizungen auslöst, bei Haustieren Magen-Darm-Beschwerden verursacht. Eine letzte Form der Gegenwehr, biologisch programmiert, kommerziell irrelevant.
Aus Samen gezogene Weihnachtssterne wachsen eintriebig, höher, anders – sie wachsen wie Pflanzen wachsen sollten, wenn man sie in Ruhe lässt, aber das ist unbrauchbar für eine Industrie, die auf schnelle Rotation und niedrige Kosten setzt, deshalb wird kommerziell ausschließlich über Stecklinge vermehrt. Das ist keine Verschwörungstheorie, keine paranoide Spekulation, das ist Standardpraxis, nachzulesen in jedem Gartenbaufachbuch. Die Natur wird manipuliert, um den Anforderungen einer Industrie zu genügen, die eigenwillige Wildform ist unbrauchbar, man braucht domestizierte Varianten, die sich wie Broiler züchten lassen: schnell, kompakt, uniform, tot nach drei Wochen.
IX. Zurück ins Regal
Ich stehe also vor dem Lidl-Regal und halte eine infizierte Pflanze in der Hand, deren Vorfahren heilig waren, deren Ahninnen rituelle Energie trugen, deren Kulturgeschichte die Mechanismen imperialer Aneignung exemplarisch durchspielt – spanische Taxonomie, US-amerikanische Kommerzialisierung, afrikanische Stecklings-Produktion, die franziskanische Christianisierung, die aztekische Symbolik durch Stern-von-Bethlehem-Narrativ und Blut-Christi-Ikonographie überformte. Heute operiert die Pflanze als saisonales Verlustführer-Produkt in der Discounter-Ökonomie mit verheerender Ökobilanz und einer Wegwerfkultur-Mentalität, die zur Selbstverständlichkeit geworden ist.
Die symbolische Reinheit, die die Azteken der Cuetlaxochitl zuschrieben, wurde erst christologisch umgewidmet, dann kommerziell ausgehöhlt, schließlich ökologisch kontaminiert – eine Massenware, die jährlich zu Millionen produziert, verkauft und entsorgt wird, spätkapitalistische Konsumlogik unter dem Label der Nachhaltigkeit.
Ich kaufe den Weihnachtsstern trotzdem, stelle ihn aufs Fensterbrett, gieße ihn regelmäßig, halte die Temperatur stabil. Vielleicht überlebt er Weihnachten, vielleicht blüht er nächstes Jahr wieder.
Die Frau hat längst bezahlt, ihr Weihnachtsstern landet in drei Wochen im Müll, dann kauft sie einen neuen, kostet ja nichts, neunundneunzig Cent. Der Preis macht jede Überlegung überflüssig.
Ich verlasse den Laden, draußen ist es kalt, die Pflanze in meiner Hand wiegt fast nichts, jahrhundertelange Kulturgeschichte für neunundneunzig Cent. Das nennt man dann Weihnachten oder Fortschritt oder einfach die logische Konsequenz dessen, was passiert, wenn man einer Zivilisation erlaubt, aus Heiligkeit Kitsch zu pressen und den Kitsch dann als Tradition zu verkaufen, während man Moore trockenlegt und Menschen ausbeutet und eine Pflanze mit Phytoplasmen infiziert, damit sie ins Regal passt.
Die Azteken sind tot, ihre Pflanze wandert weiter. Von Mexiko nach Europa, von Europa nach Afrika, von Afrika zurück nach Europa – extraktive Kreisläufe, neue Routen, alte Muster. Für neunundneunzig Cent das Stück. Ich lache. Kolonialgeschichte als Weihnachtsdekoration.
Was soll man machen.
