Wilderness und die Fiktion der unbewohnten Natur

I. Das Verschwinden als Gründungsakt
Das Wilderness-Konzept operiert durch eine fundamentale Paradoxie: Es konstruiert Natur als menschenfrei, während Menschen diese Konstruktion vollziehen müssen – durch Vertreibung, Auslöschung, epistemische Negation. Die “unberührte Wildnis”, die Thoreau am Walden Pond beschwor, war niemals unberührt gewesen: Abenaki, Massachusett, Nipmuc hatten diese Landschaften über Jahrtausende bewohnt, geformt, kultiviert. Ihre Vertreibung erst produzierte die Fiktion ursprünglicher Leere. King Philip’s War (1675-76) dezimierte die indigene Bevölkerung Neuenglands, die Überlebenden wurden in Reservate konzentriert, koloniale Landnahme verwandelte bewohnte Territorien in scheinbar jungfräuliche Wälder.
Muirs Yosemite-Verzückung basierte auf demselben Mechanismus. Die Ahwahneechee-Miwok bewohnten das Tal, pflegten Wiesenflächen durch kontrolliertes Abbrennen, regulierten Pflanzenwachstum, jagten und sammelten nach komplexen ökologischen Mustern. Ihre Vertreibung 1851 durch die Mariposa Battalion schuf die Voraussetzung für Muirs ekstatische Begegnung mit “pristine nature” – die Leere, die er als ursprünglich erlebte, war frisch produziert. Der National Park Service institutionalisierte diese Fiktion: Naturschutz durch Menschenentfernung, als hätten Landschaften darauf gewartet, endlich sich selbst sein zu dürfen.
Diese Konstruktion verbirgt ihre eigenen Bedingungen. Wilderness erscheint als das, was vor menschlicher Intervention existiert, als zeitlose Ursprünglichkeit – bezeichnet aber das Resultat kolonialer Intervention, die indigene Präsenz auslöscht, um Natur als getrennte Sphäre zu etablieren. Die Genealogie führt über Lockes Appropriationstheorie zurück: Nur wer Land kultiviert, erwirbt legitimen Besitz; indigene Landnutzung, weil anders organisiert, galt als Nicht-Nutzung, als vacuum domicilium. Die Wildnis wurde zur juridischen Kategorie – herrenlos, aneignungsfähig, wartend auf produktive Transformation.
II. Epistemische Gewalt: Die Produktion des Unbewohnten
Die Auslöschung operiert auf mehreren Ebenen simultan. Physische Vernichtung – Massaker, erzwungene Umsiedlung, kalkulierte Hungersnöte – schafft faktische Leere. Juridische Negation – terra nullius-Doktrinen, Vertragsbrüche, Landraub durch legale Instrumente – legitimiert diese Leere. Epistemische Eliminierung aber vollendet den Prozess: Indigene Präsenz wird rückwirkend unsichtbar gemacht, ihre Landschaftsgestaltung als Naturzustand missinterpretiert, ihre Wissensformen als irrelevant klassifiziert – ausgegrenzt aus der Ordnung des Wissens, die bestimmt, was überhaupt als Erkenntnis gelten darf.
Diese dreifache Auslöschung ermöglicht, was als green grabbing bezeichnet wird – Landaneignung im Namen des Umweltschutzes. Der Begriff, geprägt in der kritischen Entwicklungsforschung, beschreibt die Appropriation von Land, Ressourcen und Kontrolle durch Umweltdiskurse und -interventionen. Wo koloniale Landnahme sich einst durch “Zivilisierung” legitimierte, operiert green grabbing durch “Naturschutz”, “Biodiversität”, “Klimaschutz”. Die Rechtfertigung wechselt, die Struktur der Enteignung persistiert.
William Cronons bahnbrechende Analyse Changes in the Land (1983) zeigte, wie weitreichend indigene Völker Neuengland gestaltet hatten: offene Waldlandschaften durch systematische Feuerregime, Artenvielfalt durch gezielte Pflege, das Gesamtbild geprägt durch komplexe Nutzungsmuster. Die europäischen Kolonisten interpretierten diese kultivierten Ökosysteme als natürliche Wildnis, weil ihre Kriterien für Kultivierung – Einzäunung, Eigentumsgrenzen, sesshafte Landwirtschaft – nicht erfüllt waren. Was indigene Völker über Jahrtausende gestaltet hatten, galt als ungestaltet; ihre ökologische Praxis wurde zur Natur-an-sich umcodiert.
Die epistemische Gewalt setzt sich fort in wissenschaftlichen Paradigmen. Die klassische Ökologie etablierte sich als Disziplin durch die Annahme, Ökosysteme tendierten zu natürlichen Gleichgewichtszuständen, die durch menschliche Störung destabilisiert würden. Dieses Modell projiziert Stabilität auf die Vergangenheit, definiert indigene Landnutzung als Störung, legitimiert ihre Unterbindung als Naturschutz. Neuere Forschung zeigt: viele als “pristine” klassifizierte Ökosysteme sind menschlich ko-konstruiert – Amazonas-Terra-Preta-Böden, nordamerikanische Prärien durch Bison-Herden-Management, australische Landschaften durch Feuerregime. Die “Natur” existiert als Produkt jahrtausendelanger Koevolution mit menschlichen Gemeinschaften.
Diese Erkenntnis bleibt marginal, weil sie das Fundament westlicher Naturschutzphilosophie erschüttern würde. Wilderness als Konzept benötigt die Abwesenheit, um Reinheit zu garantieren – Präsenz kontaminiert, Nutzung degradiert, menschliche Spuren verunreinigen. Der Schutz erfordert Separation, die Bewahrung Exklusion. Das Modell reproduziert cartesianische Dualismen: Natur vs. Kultur, Objekt vs. Subjekt, Bewahrung vs. Nutzung. Indigene Kosmologien, die diese Trennungen nicht kennen, passen nicht ins Schema – sie müssen eliminiert werden, damit das Schema funktioniert.
III. Property und Dominium: Die juridische Ermöglichung
Die Transformation des Eigentumsrechts legt die Bedingungen offen, die Wilderness erst ermöglichten. Römisches Dominium war relational – Nutzungsrechte, Pflichten, eingebettet in soziale Netzwerke. Usufructus (Nießbrauch), servitutes (Dienstbarkeiten), commons schichteten Rechte übereinander, verteilten sie auf multiple Akteure. Land gehörte niemandem absolut; verschiedene Ansprüche koexistierten, beschränkten einander, schufen ein Gewebe reziproker Obligationen.
Die Moderne transformierte diese Relationalität in absolute Verfügungsgewalt – exclusive ownership, die alle anderen Ansprüche ausschließt, grenzenlose Verfügungsmacht des Eigentümers, Reduktion von Rechten auf einen Träger. Diese Transformation vollzog sich parallel zur kolonialen Expansion – sie ermöglichte sie, wurde durch sie verstärkt. Koloniale Landnahme benötigte juridische Instrumente, die komplexe indigene Landrechte negieren konnten; absolute property lieferte diese Instrumente.
Wilderness-Schutz operiert innerhalb dieses transformierten Eigentumsregimes. Der Staat appropriiert Land – durch Kauf, Enteignung, Annexion – um es als Schutzgebiet zu klassifizieren. Diese Klassifizierung schließt Nutzung aus, definiert Land als dem menschlichen Zugriff entzogen. Der Schutz reproduziert paradoxerweise die koloniale Logik: Absolute Verfügungsgewalt ermöglicht absolute Exklusion. Der Staat besitzt, um zu verbieten; er herrscht durch Nicht-Nutzung. Indigene Gemeinschaften, die vor der Appropriation Nutzungsrechte hatten, verlieren diese komplett – keine graduellen Einschränkungen, totaler Ausschluss.
Modernes Recht kennt entweder Personen (Rechtsträger) oder Sachen (Rechtsobjekte). Natur fällt in die zweite Kategorie – passiv, stumm, verfügbar. Schutz bedeutet dann: Die Person Staat übernimmt Verfügungsgewalt über die Sache Natur, um sie vor anderen Personen zu schützen. Das Schema bleibt anthropozentrisch, dualistisch, herrschaftlich. Indigene Rechtskonzeptionen, die Land als Akteur begreifen, als Beziehungspartner mit eigenen Ansprüchen, werden als primitive Animismen diskreditiert.
IV. Kosmologische Alternativen: Relationalität vs. Separation
Philippe Descola hat in Jenseits von Natur und Kultur vier ontologische Modi unterschieden: Naturalismus (westlich) trennt Natur (universell, physikalische Gesetze) von Kultur (partikulär, menschliche Bedeutungen). Animismus geht von geteilter Innerlichkeit aus: Alle Wesen verfügen über Bewusstsein, unterscheiden sich jedoch in ihrer körperlichen Form. Das Wilderness-Konzept ist radikal naturalistisch. Es postuliert Natur als Sphäre, die unabhängig von menschlichen Bedeutungen existiert, eigenen Gesetzen folgt und am reinsten bleibt, wo Menschen abwesend sind. Kultur kontaminiert Natur; Schutz erfordert Trennung; Authentizität liegt in der Abwesenheit des Kulturellen.
Indigene Kosmologien operieren oft animistisch oder totemistisch. Für Anishinaabe-Völker ist Land belebt, mit Geistern bewohnt, in Verwandtschaftsbeziehungen integriert. Das Konzept Aki (Land/Erde) bezeichnet einen lebenden Verwandten, dem Respekt gebührt, mit dem Menschen in reziproken Austausch treten, der Pflege benötigt und zurückgibt. “Wilderness” – unbewohntes Land ohne menschliche Beziehung – bleibt undenkbar. Land existiert immer schon relational, immer in Verwendung, immer in Kommunikation mit Bewohnern.
Māori-Konzepte wie Ko au te Awa, ko te Awa ko au (Ich bin der Fluss, der Fluss ist ich) artikulieren diese Nicht-Trennung explizit. Der Whanganui River erhielt 2017 Rechtspersönlichkeit – westliche Juristen feierten dies als progressiv, übersahen aber: Das Modell invertiert indigene Ontologie. Statt anzuerkennen, dass Menschen und Fluss ko-konstitutiv sind, wird der Fluss zur juristischen Person gemacht, die Menschen repräsentieren. Die Repräsentationsfiktion erhält die Subjekt-Objekt-Spaltung, während indigene Perspektive diese Spaltung selbst auflöst.
Aboriginal-Kosmologie funktioniert als System wechselseitiger Verantwortlichkeiten zwischen Menschen, Land, Tieren, Pflanzen, Vorfahren. Tjukurpa (Traumzeit-Gesetz) reguliert diese Beziehungen durch komplexe Rituale, Narrative, Praktiken. Landmanagement ist spirituelle Praxis; Nahrungsbeschaffung ist zeremonielle Handlung; ökologische Balance emergiert aus Einhaltung relationaler Verpflichtungen. Das Konzept “unberührter Natur” negiert diese Strukturen – es unterstellt, Berührung degradiere, während indigene Perspektive sagt: Berührung erhält, Pflege ko-kreiert, Beziehung generiert Gesundheit.
V. Fortress Conservation: Die zeitgenössische Fortsetzung
Grzimeks Serengeti-Projekt exemplifiziert, wie Wilderness-Ideologie koloniale Gewalt reproduziert. Die Maasai bewohnten die Region über Jahrhunderte, ihre Pastoralismus-Praktiken ko-existierten mit wildlebenden Tieren. Die Schaffung des Serengeti National Park (1951, erweitert 1959) erforderte ihre Vertreibung – Grzimek argumentierte, menschliche Präsenz störe die natürliche Ordnung, Viehweiden konkurrierten mit Wildtieren, traditionelle Landnutzung degradiere Ökosysteme. Diese Argumentation verbirgt: Maasai-Praktiken hatten die Region über Generationen geformt, ihre Mobilität verhinderte Überweidung, ihre Beziehung zu wildlebenden Tieren war komplex koevolutionär.
Die Vertreibung folgte klassischen Wilderness-Mustern: Physische Entfernung (erzwungene Umsiedlung), juridische Negation (Parkgrenzen, Nutzungsverbote), epistemische Auslöschung (Darstellung als unberührte Wildnis, Ignorierung indigener Geschichte). Grzimek filmte Serengeti darf nicht sterben (1959) – die Narration suggerierte Rettung eines paradiesischen Urzustands vor menschlicher Bedrohung. Der Film dokumentierte die Implementierung eines kolonialen Naturschutzmodells, das lokale Bevölkerungen ihrer Lebensgrundlage beraubte, um europäische Vorstellungen von Natur zu realisieren.
Big Conservation: Die industrielle Organisation der Vertreibung
Der zeitgenössische Festungsschutz perpetuiert diese Logik global, getragen von großen internationalen Naturschutzorganisationen, die als Big Conservation bezeichnet werden. WWF (World Wildlife Fund), Conservation International, The Nature Conservancy, Wildlife Conservation Society – diese Organisationen operieren mit Jahresbudgets in Milliardenhöhe, unterhalten enge Verbindungen zu Regierungen und Konzernen, prägen globale Naturschutzpolitik. Ihre Arbeit basiert vielfach auf dem Modell menschenfreier Schutzgebiete.
Die Verstrickungen sind dokumentiert: Der WWF finanzierte über Jahre paramilitärische Ranger-Einheiten im Kongo-Becken, in Kamerun, in Indien, die schwere Menschenrechtsverletzungen begingen – Folter, sexualisierte Gewalt, außergerichtliche Tötungen. Die Baka in Kamerun wurden aus ihren angestammten Wäldern vertrieben, damit WWF-finanzierte Parks entstehen konnten. Investigative Berichte von BuzzFeed (2019) und anderen legten systematische Muster offen: Naturschutz durch Gewalt, finanziert von Spendengeldern westlicher Unterstützer, die glaubten, “die Natur zu retten”.
Diese Organisationen operieren in einer Grauzone zwischen Naturschutz und Sicherheitsindustrie. The Nature Conservancy besitzt über 5 Milliarden Dollar Vermögen, unterhält Investmentportfolios, kooperiert mit Ölkonzernen. Conservation International erhielt Millionen von Bergbauunternehmen, Agrochemie-Konzernen, Fast-Food-Ketten – Greenwashing als Geschäftsmodell. Die “Rettung der Natur” wird zur profitablen Industrie, deren Kosten – Vertreibung, Entrechtung, Gewalt – auf jene externalisiert werden, die diese Landschaften bewohnen.
Die Militarisierung des Naturschutzes
Seit den 1990er Jahren erfolgt eine systematische Militarisierung des Naturschutzes – Parks werden zu militarisierten Zonen, Ranger mit automatischen Waffen ausgestattet, ehemalige Militärs und private Sicherheitsfirmen übernehmen das Management. Die Rhetorik ist kriegerisch: “War on Poaching”, “Green Militias”, Wilderer als “Feinde” die “bekämpft” werden müssen.
Der Kaziranga National Park in Indien zeigt, wohin diese Logik führt. Ranger haben de facto die Lizenz zu töten – shoot-to-kill policies ohne Gerichtsverfahren. Zwischen 2013 und 2020 wurden über 100 Menschen erschossen, darunter Kinder, unbewaffnete Zivilisten, Menschen die Feuerholz sammelten. Die BBC dokumentierte Fälle von Folter, willkürlichen Hinrichtungen, Vertuschung durch Parkbehörden. Die Begründung: Der Schutz des Panzernashorns erfordere harte Maßnahmen. Die Realität: systematische Terrorisierung der lokalen Bevölkerung, überwiegend indigene und marginalisierte Gemeinschaften.
Diese green militarization transformiert Ranger von Naturschützern zu paramilitärischen Einheiten. Training durch US- und europäische Militärberater, Ausrüstung durch Waffenhersteller, Finanzierung durch Naturschutz-NGOs. Die Logik ist fortress conservation in ihrer brutalsten Form: Menschen sind die Bedrohung, Gewalt die Lösung, Vertreibung das Ziel. Dass dieselben Parks für wohlhabende Touristen geöffnet bleiben – Safaris, Luxus-Lodges, Instagram-Motive – offenbart die Klassenlogik: Natur für zahlende Gäste, Gewalt für Bewohner.
30×30: Die kommende Vertreibungswelle
Die COP15 in Kunming-Montreal (2022) beschloss das 30×30-Ziel: 30 Prozent der terrestrischen und marinen Fläche bis 2030 unter Schutz stellen. Die internationale Naturschutzgemeinschaft feierte dies als historischen Durchbruch, während Menschenrechtsorganisationen und indigene Bewegungen vor der größten Landnahme seit der Kolonialzeit warnen. Schätzungen sprechen von 300 Millionen betroffenen Menschen – Vertreibung in industriellem Maßstab, legitimiert durch Biodiversitätsschutz.
Die Mathematik ist brutal einfach: 30 Prozent der Landfläche entspricht etwa 4,5 Milliarden Hektar. Indigene Völker bewohnen und verwalten derzeit über 40 Prozent der noch intakten Ökosysteme der Erde – genau jene Gebiete, die für neue Schutzgebiete attraktiv erscheinen, weil sie hohe Biodiversität aufweisen. Diese Biodiversität existiert gerade durch die Bewohnung und Pflege, nicht trotz dieser. Die Wilderness-Logik invertiert die Kausalität: Biodiversität wird als Beweis für Unbewohntheit gelesen, als Rechtfertigung für Exklusion.
Das 30×30-Modell wiederholt die Fehler des 20. Jahrhunderts in verschärfter Form. Keine verbindlichen Menschenrechtsgarantien, keine Verpflichtung zu Free, Prior and Informed Consent (FPIC) – dem völkerrechtlichen Prinzip indigener Zustimmung. Stattdessen vage Formulierungen über “andere effektive gebietsbasierte Schutzmaßnahmen” (OECMs), die alles und nichts bedeuten können. Regierungen erhalten Anreize, schnell Schutzgebiete auszuweisen – durch CO₂-Zertifikate, internationale Finanzierung, Klimaschutzverpflichtungen. Die Geschwindigkeit der Umsetzung verhindert sorgfältige Konsultation, ermöglicht top-down Entscheidungen, reproduziert koloniale Muster der Landnahme.
Schätzungen zufolge überlappen zwischen 40 und 50 Prozent aller existierenden Schutzgebiete mit indigenen Territorien, Vertreibungen haben seit Mitte des 20. Jahrhunderts Hunderttausende bis Millionen Menschen betroffen. Mit 30×30 droht eine Potenzierung dieser Zahlen. Bewaffnete Ranger verüben regelmäßig dokumentierte Menschenrechtsverletzungen gegen lokale Gemeinschaften – Rechenschaft wird selten gefordert, noch seltener durchgesetzt. Der Naturschutz, der vorgibt, Leben zu schützen, vernichtet Lebensweisen – und zunehmend Leben selbst.
Die Paradoxie: Zahlreiche Studien zeigen, dass indigene Territorien oft höhere Biodiversität aufweisen als staatliche Schutzgebiete. Wo indigene Völker Landmanagement praktizieren, bleiben Entwaldungsraten häufig niedriger, Artenvielfalt stabiler, Ökosystemfunktionen intakter. Die Wilderness-Ideologie, die Schutz durch Menschenabwesenheit postuliert, produziert vielfach schlechtere Ergebnisse als indigene Präsenz. Die Evidenz widerlegt das Modell – es persistiert, weil politische Interessen (Tourismus-Einnahmen, Ressourcenextraktion in anderen Regionen, internationale conservation-Industrie) von seiner Fortsetzung profitieren.
VI. Die Sehnsucht nach Leere: Psychopolitische Dimensionen
Das Wilderness-Konzept bedient spezifisch westliche Sehnsüchte – Flucht aus urbaner Entfremdung, Sehnsucht nach Authentizität, Kompensation für industrielle Zerstörung. Die “unberührte Natur” funktioniert als Projektionsfläche romantischer Fantasien: der Ort jenseits kapitalistischer Verwertung, wo Beziehungen ungekünstelt erscheinen, wo das Selbst Authentizität verspricht. Diese Sehnsucht reproduziert koloniale Strukturen – sie benötigt Leere, um sich dort zu installieren, projiziert eigene Bedürfnisse auf fremde Territorien, ignoriert existierende Bewohner, weil deren Präsenz die Fantasie stört.
Die psychopolitische Ökonomie folgt einem Muster der Selbstausbeutung. Das erschöpfte neoliberale Subjekt sucht Regeneration in “reiner Natur” – doch diese Natur ist Produkt derselben extraktiven Logik, die Erschöpfung produziert. Der Ökotourismus, der Wilderness-Erfahrung verkauft, basiert auf Vertreibung lokaler Bevölkerungen, ihre Arbeitskraft als Dienstleistungspersonal für Touristen, die “ursprüngliche Natur” konsumieren. Die Wildnis-Erfahrung ist Waren-Erfahrung – authentisch inszeniert, käuflich, kuratiert für maximales Erleben bei minimaler Störung.
Diese Dynamik erklärt die emotionale Intensität der Wilderness-Verteidigung. Umweltbewegungen, die für Schutzgebiete kämpfen, artikulieren genuine ökologische Sorgen – doch die affektive Ladung speist sich aus der Bedrohung der projektiven Fantasie. Indigene Ansprüche auf Landmanagement erscheinen als Bedrohung der Reinheit, als Kontamination des Authentischen. Die Verteidigung der Wildnis wird zur Verteidigung eines imaginären Refugiums gegen die Zumutungen der Moderne – auf Kosten derer, die dieses Refugium bewohnen, bevor es zum Refugium erklärt wurde.
Wo permanente Optionalität überfordert, wo Authentizitätsimperative belasten, bietet Wilderness scheinbare Entlastung – die Natur als das, was keine Entscheidungen verlangt, was einfach ist. Doch diese Einfachheit ist Konstrukt: komplexe ökologische Systeme werden zu contemplativen Landschaften reduziert, indigene Landnutzung unsichtbar gemacht, die Arbeit der Erhaltung delegiert an Ranger und Behörden. Was als Flucht vor Komplexität erscheint, beruht auf Vereinfachung durch Gewalt – der Entfernung derer, die Komplexität verkörpern.
VII. Klimaschutz als Landnahme: Carbon Colonialism und die autoritäre Versuchung
Die Klimakrise hat dem Wilderness-Konzept neue Legitimation verschafft. Wo klassischer Naturschutz durch Biodiversitätsargumente operierte, liefert Klimaschutz noch dringlichere Rechtfertigungen: Wälder als Kohlenstoffsenken, Moore als Klimaregulatoren, intakte Ökosysteme als Überlebensbedingung der Menschheit. Die Argumentation klingt unwiderlegbar – doch sie ermöglicht eine neue Welle kolonialer Aneignung, diesmal im Namen planetarischer Rettung.
Carbon Colonialism: Die Kommodifizierung der Atmosphäre
Carbon colonialism beschreibt die Aneignung von Land und Lebensweisen durch Klimaschutzmaßnahmen, die primär im globalen Norden entwickelt wurden und im globalen Süden implementiert werden. REDD+ (Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation) exemplifiziert die Mechanik: Wälder werden zu Kohlenstoffsenken umcodiert, deren “Wert” in CO₂-Zertifikaten messbar wird. Diese Zertifikate können gehandelt werden – Konzerne im Norden “kompensieren” ihre Emissionen durch Waldschutz im Süden.
Die Logik repliziert koloniale Muster. Nordatlantische Staaten und Konzerne, die historisch die meisten Emissionen verursachten, kaufen sich frei durch Kontrolle über Wälder im globalen Süden. Indigene Gemeinschaften, die diese Wälder über Generationen bewahrt haben, verlieren Nutzungsrechte – keine Brandrodung für Landwirtschaft, keine traditionelle Jagd, keine Ressourcenentnahme. Der Wald muss “unberührt” bleiben, damit die Zertifikate gültig sind. Die Bewohner werden zu Verwaltern ihrer eigenen Enteignung, manchmal bezahlt mit Mikrozahlungen, die einen Bruchteil des Handelswertes der Zertifikate darstellen.
Die Kommodifizierung der Atmosphäre schafft neue Eigentumsregimes. Was niemandem gehörte – die Kapazität von Ökosystemen, CO₂ zu binden – wird zu handelbare Ware. Wer diese Kapazität kontrolliert, extrahiert Wert. Carbon Cowboys – Vermittler, die Zertifikate von indigenen Gemeinschaften “erwerben” durch intransparente Verträge – operieren in regulatorischen Grauzonen. Konzerne wie Shell, Total, BP investieren Milliarden in Nature-Based Solutions, sichern sich Zugriff auf riesige Territorien, während sie fossile Geschäftsmodelle fortsetzen. Die “Lösung” perpetuiert das Problem durch neue Aneignungsformen.
Konkret bedeutet das: Ogiek in Kenia verlieren Zugang zum Mau Forest, weil dieser als Carbon Sink klassifiziert wird. Sengwer werden vertrieben, damit Aufforstungsprojekte implementiert werden können, die CO₂-Zertifikate generieren. Batwa in der Region der Großen Seen verloren ihre Wälder bereits durch klassische conservation; nun werden dieselben Wälder zu Carbon-Projekten umgewidmet, ohne dass Batwa Kompensation oder Zugang erhielten. Die Begründung wechselt – von Gorillaschutz zu Klimaschutz –, die Struktur der Enteignung bleibt.
Die autoritäre Versuchung: Von Ökologie zum Ökofaschismus
Die Dringlichkeit der Klimakrise erzeugt autoritäre Versuchungen. Wenn planetarisches Überleben auf dem Spiel steht, wenn “die Menschheit” gerettet werden muss, erscheinen demokratische Prozesse, indigene Rechte, lokale Widerstände als hinderlicher Luxus. Die Logik lautet: Keine Zeit für Konsultation, keine Zeit für Konsens, keine Zeit für komplizierte Landrechtsfragen. Durchregieren für den Planeten – ein grüner Autoritarismus, der sich als Notwendigkeit tarnt.
Diese Versuchung hat historische Wurzeln. Der Naturschutz der Nazis – Reichsnaturschutzgesetz 1935, erste Wildnisgebiete in Europa, frühe Tierrechtsgesetze – operierte durch autoritäre Durchsetzung, völkische Blut-und-Boden-Ideologie, Verbindung von Naturschutz mit Rassenideologie. Heinrich Himmler war begeisterter Naturschützer; Reinhard Heydrich plante Naturschutzgebiete für “germanische Wildnis”. Diese Verbindung ist keine zufällige Koinzidenz, vielmehr strukturelle Affinität: Beide Projekte fetischisieren Reinheit, definieren Bedrohungen durch “Fremdes”, legitimieren Gewalt durch höhere Ziele.
Der zeitgenössische Ökofaschismus aktualisiert diese Muster. Rechtsextreme Bewegungen appropriieren ökologische Rhetorik – “Heimatschutz ist Naturschutz”, Klimamigration als “Bedrohung”, Überbevölkerung als Problem (aber immer woanders, im globalen Süden). Der Attentäter von Christchurch titulierte sein Manifest “The Great Replacement” und bezeichnete sich als Öko-Faschist. Der El Paso-Terrorist begründete seinen Angriff auf Latino-Communities durch Umweltschutzargumente. Online-Communities feiern “ecofascist aesthetics” – Naturmystik vermischt mit white supremacy, Neopaganism mit Ethnonationalismus.
Diese Extremfälle offenbaren eine breitere Struktur. Der Malthusianismus – die Vorstellung, Überbevölkerung sei das Kernproblem – persistiert in scheinbar progressivem Umweltdenken. Paul Ehrlichs “Population Bomb” (1968) warnte vor Überbevölkerung, forderte drastische Maßnahmen, ignorierte systematisch, dass der ökologische Fußabdruck ungleich verteilt ist. Ein US-Amerikaner emittiert durchschnittlich soviel wie 15 Inder; die reichsten 10% verursachen 50% globaler Emissionen. Doch die malthusianische Logik macht ‘Bevölkerung’ zum gouvernementalen Problem, fokussiert auf Reproduktionsraten im globalen Süden, auf “zu viele Menschen” statt auf Konsumstrukturen, Wirtschaftssysteme, Machtasymmetrien.
Die Deep Ecology-Bewegung, obwohl in vielem wertvoll, trägt problematische Tendenzen. Arne Næss’ Biozentrismus – alle Lebensformen haben intrinsischen Wert – kann kippen in Misanthropie, die menschliches Leben als Krankheit des Planeten versteht. Earth First!-Gründer Dave Foreman äußerte in den 1980ern, Hungersnöte in Äthiopien seien natürliche Populationskontrolle. Diese Aussagen wurden später zurückgezogen und relativiert – doch sie zeigen die Versuchung, die im biozentrisch-egalitären Denken lauert: Wenn alle Spezies gleich sind, warum sollte gerade Homo sapiens proliferieren?
Die Gefahr liegt in der Verbindung ökologischer Dringlichkeit mit autoritären Lösungen. Wenn Klimakollaps droht, erscheinen Demokratie, Menschenrechte, komplizierte Verhandlungen als Hindernisse. Die Fantasie eines ökologischen Leviathan – eines grünen Absolutismus, der durchregiert “für den Planeten” – zirkuliert in Debatten über “Climate Leviathan” (Wainwright/Mann 2018). Die Frage ist: Wessen Interessen definieren den Ausnahmezustand? Wessen Leben wird geopfert für planetarische Rettung? Die historische Antwort ist eindeutig: jene im globalen Süden, indigene Völker, marginalisierte Gemeinschaften – während Eliten ihre Privilegien bewahren.
Die Wilderness-Ideologie liefert die Struktur für diesen grünen Autoritarismus. Menschen müssen entfernt werden, damit Natur (Klima) gerettet wird. Gewalt ist tragisch, aber notwendig. Rechte müssen suspendiert werden für das höhere Ziel. Die Dringlichkeit legitimiert Ausnahmen. Diese Logik – der permanente Ausnahmezustand im Namen ökologischer Krise – öffnet Räume für autoritäre Transformation. Der Ökofaschismus ist keine ferne Bedrohung, vielmehr latente Möglichkeit im Herzen eines Naturschutzdenkens, das Menschen als Problem definiert, Leere als Lösung fetischisiert, Gewalt als notwendiges Übel akzeptiert.
VIII. Privatisierte Leere: Vanlife und die mobile Appropriation
Wo der Staat im 19. Jahrhundert durch kollektive Vertreibung Nationalparks schuf, appropriieren heute privilegierte Individuen temporär genau diese Landschaften – als Kulisse für lifestyle content, als Regenerationsraum zwischen Projekten, als Instagram-Material. Vanlife und digitales Nomadentum reproduzieren die Wilderness-Fantasy in privatisierter, mobiler Form: dieselbe projektive Leere, dieselbe Authentizitäts-Sehnsucht, dieselben “unberührten” Landschaften, die der klassische Naturschutz als Schutzgebiete fixierte.
Die Differenz liegt im Modus der Aneignung. Keine permanente Okkupation, eher serielle Temporalität. Der digitale Nomade zieht weiter, sobald der Ort “verbraucht” ist, sobald zu viele andere denselben Spot entdeckt haben, sobald die Authentizität durch zu viele Kopien verwässert wurde. Diese Mobilität setzt enormes Privileg voraus – Pässe, die Grenzen öffnen, Kapital für Ausrüstung und Reisen, digitale Skills für remote work, Bildung, die solche Karrieren ermöglicht. Während indigene Völker durch Vertreibung zwangsmobilisiert wurden, mobilisieren sich Vanlifer freiwillig als vermeintliche “Flucht” aus neoliberalen Zwängen – tatsächlich verkörpern sie deren Apotheose.
Die totale Flexibilisierung – keine festen Bindungen, permanente Verfügbarkeit, Arbeit überall – realisiert das neoliberale Ideal des unternehmerischen Selbst, das sich selbst optimiert durch geografische Arbitrage. Die Orte, die diese Kultur sucht, sind jene konstruierten Leeren, die Wilderness-Ideologie produzierte: Küstenabschnitte, Wüsten, Bergregionen, Wälder – vorzugsweise ohne sichtbare menschliche Infrastruktur, ohne Zeichen von Bewohnung, ohne Störung der Naturkulisse. Diese Leere wird zum Konsumgut, dessen Wert mit seiner Seltenheit steigt. Geheimtipps zirkulieren in geschlossenen Communities, spots werden exklusiv gehalten, Übernutzung beklagt – die Sehnsucht nach exklusiver Naturerfahrung reproduziert Exklusionsmechanismen.
Die ökonomische Dimension ist evident: Orte, die bisher von lokalen Gemeinschaften niedrigschwellig genutzt wurden, werden zu destinations, deren Zugang zunehmend Ressourcen erfordert. Campingplätze verteuern sich, Wildcamping wird verboten (weil zu viele kamen), alternative Übernachtungsorte privatisiert. Die temporären Bewohner bringen Kaufkraft mit, wodurch Einheimische verdrängt werden – dieselbe Logik wie Gentrifizierung, geografisch ausgeweitet zu einer Tourismus-Gentrifizierung, die ganze Regionen transformiert.
Die Extraktion von Authentizität
Vanlife-Ästhetik verkauft Einfachheit, Minimalismus, Rückkehr zu essentials – während die Praxis hochgradig konsumistisch operiert. Vans im Wert von Eigenheimen, ausgestattet mit Solarpanels, Starlink, hochwertigem Camping-Equipment. Die “Einfachheit” ist teuer kuratiert, die “Freiheit” erkauft durch Kapitalinvestition. Instagram zeigt Sonnenuntergänge über leeren Stränden, verschweigt die Recherche nach spots mit Mobilfunkempfang, die Logistik von Wasserversorgung, die Abhängigkeit von ökonomischen Strukturen, die diese Mobilität erst ermöglichen.
Die Authentizität, die gesucht wird, entspricht jener in Wilderness-Narrativen – das Ungekünstelte, das Ursprüngliche, das Echte jenseits urbaner Artifizialität. Was erreicht wird, ist Inszenierung: Die Natur als Kulisse für self-branding, Landschaften als content-Lieferanten, Orte als Erlebnis-Produkte, die man akkumuliert und zur Schau stellt. Die Beziehung bleibt extraktiv – man nimmt Bilder, Erlebnisse, regenerative Energie mit, gibt wenig zurück außer möglicherweise ökonomischer Nachfrage, die Preise treibt.
Entscheidend: Diese Praktiken operieren oft in der Fiktion, die besuchten Orte seien “leer” oder zumindest primär für touristische Nutzung verfügbar. Die Geschichte dieser Landschaften – wer sie bewohnte, wer vertrieben wurde, welche Rechte indigene Gemeinschaften haben – wird häufig ausgeblendet. Der digitale Nomade campiert auf Land, dessen koloniale Aneignung er nicht hinterfragt, dessen gegenwärtige Bewohner er als Dienstleistungspersonal wahrnimmt (wenn überhaupt), deren Verdrängung durch Tourismus-Infrastruktur er beschleunigt.
In den USA parken Vanlifer in Gegenden, die Navajo, Hopi, Ute traditionell nutzen – die Nationalparks im Südwesten sind klassische Wilderness-Konstruktionen, die auf indigener Vertreibung basieren. In Neuseeland campen sie auf Land, das heilige Stätten der Māori beherbergt, dessen Nutzung durch Regularien eingeschränkt ist, die Māori-Gemeinschaften erkämpft haben. In Patagonien okkupieren sie Regionen, wo Mapuche um Landrechte kämpfen. Die Mobilität erlaubt es, diese Komplexitäten zu ignorieren – man ist nicht lange genug da, um Verantwortung übernehmen zu müssen.
Neoliberale Selbstausbeutung als Naturerfahrung
Die Selbsterzählung lautet: Freiheit, Abenteuer, Ausstieg aus dem Hamsterrad. Die Realität: permanente Selbstoptimierung, Arbeit rund um die Uhr (weil keine Trennung zwischen Arbeits- und Lebensraum), ständiger Druck zu produzieren (content, Einkommen, Rechtfertigung des lifestyles). Das erschöpfte Selbst sucht Regeneration in Bewegung, findet aber neue Formen der Selbstausbeutung – getarnt als lifestyle choice, als Freiheit, als Selbstverwirklichung.
Die Natur wird zur Kulisse dieser Ausbeutung. Morgens Yoga am Strand (gefilmt für Instagram), dann remote work im Van, abends Sonnenuntergangs-content, nachts die Verwertungsarbeit: Bildretouche, Caption-Writing, Hashtag-Optimierung. Die Trennung zwischen Erholung und Produktion kollabiert – jede Erfahrung wird potentiell verwertbar, jeder Ort zur möglichen Kulisse, jede Begegnung zur content-opportunity. Die Naturbeziehung bleibt instrumentell, die Landschaft Hintergrund für das Projekt der Selbstvermarktung.
Die Kontinuität zur Wilderness-Problematik liegt in der persistierenden projektiven Leere. Wo Wilderness-Ideologie staatliche Schutzgebiete schuf durch Vertreibung indigener Bewohner, schaffen Vanlife und digitales Nomadentum private, temporäre Aneignungen derselben Fantasieräume. Beide operieren durch Unsichtbarmachung existierender Bewohnung, durch Romantisierung von Landschaft, durch Sehnsucht nach menschenfreier Natur – während Menschen diese Sehnsucht befriedigen durch Präsenz, die sie verleugnen.
Der Unterschied: Wilderness fixierte durch Institutionen, Vanlife mobilisiert durch Individuen. Wilderness schuf dauerhafte Exklusion, digitales Nomadentum schafft fluktuierende Verdrängung. Wilderness legitimierte sich durch Naturschutz, Vanlife legitimiert sich durch Selbstverwirklichung. Die Struktur bleibt: Privilegierte appropriieren Räume, die anderen gehören oder gehörten, projizieren darauf Authentizitätsfantasien, ignorieren koloniale Gewalt, die diese Appropriation ermöglichte. Die zeitgenössische Form ist weniger sichtbar gewalttätig – keine Mariposa Battalion, keine erzwungenen Umsiedlungen. Die Gewalt ist strukturell, ökonomisch, schleichend: Tourismus-Gentrifizierung, Verdrängung durch Preissteigerungen, Kriminalisierung lokaler Praktiken zugunsten touristischer Nutzung, ökologische Degradation durch Übernutzung.
IX. Reziprozität statt Separation
Indigene Kosmologien praktizieren oft Reziprozität mit Land – was genommen wird, muss zurückgegeben werden, Nutzung verpflichtet zu Pflege, Ernte erfordert Dank. Diese Praktiken konstituieren Beziehung statt Besitz, Verantwortung statt Verfügung. Robin Wall Kimmerers Braiding Sweetgrass artikuliert dies aus Potawatomi-Perspektive: Pflanzen sind Lehrer, Land ist Verwandter, Ernte ist zeremoniell.
Wilderness-Modelle dagegen fixieren: Der Staat besitzt, um zu konservieren; das Land wird aus Zirkulation genommen; Beziehung wird durch Separation ersetzt. Die Alternative läge darin, Land als commons zu verstehen, das zirkuliert zwischen Generationen, Arten, Ökosystemen. Menschliche Nutzung als Teilnahme an dieser Zirkulation, als beitragende Beziehung statt extraktive Ausbeutung oder absolute Nicht-Berührung.
Praktisch bedeutet das: Indigene Landmanagement-Praktiken nicht als Störung klassifizieren, vielmehr als Ko-Kreation von Ökosystem-Gesundheit. Kontrolliertes Abbrennen, Rotationsbeweidung, selektive Ernte – diese Techniken, über Jahrtausende verfeinert, generieren oft höhere Biodiversität als westliche “hands-off”-Ansätze. Die Anerkennung erfordert epistemische Demut: Zugeben, dass westliche Ökologie manches nicht versteht, dass traditionelles Wissen valide ist, dass Schutz ohne indigene Beteiligung scheitert.
Statt Land zu akkumulieren (privates Eigentum) oder zu fixieren (Schutzgebiete), es freigeben zur Ko-Verwaltung, zur Zirkulation zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Das erfordert juridische Innovation – Anerkennung multipler überlappender Rechte, Abkehr von absolutem Eigentum, Entwicklung relationaler Rechtsformen. Römisches Recht kannte solche Strukturen, moderne Absolutheit ist historisches Konstrukt, nicht Naturnotwendigkeit.
X. Dekoloniale Praxis: Rückgabe und Transformation
Die politische Konsequenz dieser Analysen ist eindeutig: Land Back. Die Rückgabe von Schutzgebieten an indigene Verwaltung, die Anerkennung indigener Souveränität über Territorien, die Beteiligung indigener Gemeinschaften an Naturschutzentscheidungen. Dies ist keine symbolische Geste, vielmehr substantielle Transformation – Umverteilung von Macht, Ressourcen, Entscheidungsgewalt.
Die empirische Evidenz unterstützt diese Forderung: Indigene Territorien weisen in vielen Fällen bessere Naturschutz-Ergebnisse auf. Doch die Argumentation sollte nicht primär utilitaristisch sein – indigene Rechte sind nicht dadurch legitimiert, dass indigene Praktiken “nützlich” für westliche Schutzziele sind. Die Legitimation liegt in Gerechtigkeit, in der Anerkennung historischer Gewalt, in der Respektierung von Souveränität. Wenn indigene Praktiken zudem ökologisch vorteilhaft sind, ist das zusätzlicher Vorteil, aber nicht die Grundlage der Ansprüche.
Die Transformation erfordert juridische Innovation. Das absolute Eigentumsmodell muss aufgebrochen werden zugunsten relationaler Rechtsformen, die multiple Ansprüche anerkennen, Ko-Verwaltung ermöglichen, Verantwortlichkeiten statt bloß Rechte konstituieren. Das Modell existiert in indigenen Rechtssystemen – deren Anerkennung erfordert epistemische Demut, die Bereitschaft, von anderen Traditionen zu lernen statt alle Systeme zu homogenisieren.
Die Rückgabe bedeutet auch: Anerkennen, dass manche Wilderness-Gebiete koloniale Konstrukte sind, deren Existenz auf Unrecht basiert. Dies zu dekonstruieren ist schmerzhaft für jene, die emotional in diese Landschaften investiert sind, die dort Regeneration fanden, die Wilderness-Erfahrung als spirituell bedeutsam erleben. Die Dekonstruktion negiert diese Erfahrungen nicht – sie kontextualisiert sie, zeigt ihre Ermöglichungsbedingungen, fordert Verantwortungsübernahme für die Gewalt, die diese Erfahrungen ermöglichte.
XI. Coda: Für eine Praxis der Mitbewohnung
Die Alternative zum Wilderness-Modell liegt in der Kultivierung von Mitbewohnungspraktiken – multispecies flourishing, wie Anna Tsing es nennt. Menschen sind Teil von Ökosystemen, nicht deren Gegenteil. Die Frage ist: Welche Formen menschlichen Lebens ermöglichen ökologische Gesundheit? Welche destruieren sie?
Die Antwort variiert kontextual – keine universelle Lösung, keine globale Blaupause. In manchen Regionen mag minimale menschliche Präsenz angemessen sein; in anderen ko-kreieren Menschen und Nicht-Menschen gemeinsam Biodiversität. Die Entscheidung sollte lokal getroffen werden, unter Beteiligung derer, die dort leben, unter Anerkennung indigener Souveränität, wo diese existiert.
Das erfordert Abschied von der Wilderness-Fantasie – jener Sehnsucht nach menschenfreier Reinheit, die koloniale Gewalt reproduziert. Es erfordert Akzeptanz von Hybridität, von Vermischung, von komplexen Ko-Konstitutionen. Es erfordert epistemische Bescheidenheit – die Anerkennung, dass westliche Ökologie nicht alles weiß, dass andere Wissensformen valide sind, dass Kontrolle oft kontraproduktiv ist.
Die Praxis der Mitbewohnung akzeptiert Vergänglichkeit – Ökosysteme transformieren sich, Arten wandern, Klimawandel erzwingt Adaptationen. Keine Fixierung auf einen imaginären Ursprungszustand, vielmehr Begleitung dynamischer Prozesse. Keine Musealisierung von Natur, vielmehr Teilnahme an ihrer fortlaufenden Entstehung.
Das Wilderness-Konzept war immer Projektion – westliche Fantasien auf kolonial geleerte Territorien. Seine Dekonstruktion öffnet Raum für andere Naturbeziehungen, die auf Reziprozität basieren statt auf Separation, die Ko-Kreation ermöglichen statt Konservierung erzwingen, die Beziehung kultivieren statt Leere fetischisieren. Die Leere war nie leer – sie war gefüllt mit Leben, mit Geschichte, mit Beziehungen, die sichtbar werden, sobald die projektive Fantasie ihre Macht verliert.
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Hinweis: Die Literaturliste erfasst die im Text explizit genannten sowie implizit notwendigen Quellen. Für eine vollständige wissenschaftliche Arbeit sollten je nach Schwerpunkt weitere Spezialliteratur zu einzelnen Fallbeispielen (Serengeti, Kaziranga, 30×30-Initiative etc.) sowie aktuelle Policy-Dokumente ergänzt werden.
