Gründungsmanifest der Tiānwèn Akademie

Warum wir eine Schule für Fragen brauchen, keine Anstaltung für Antworten

I. Gegen die Verhärtung
Die Welt erstickt an Gewissheiten. Jede Disziplin baut Festungen aus Methoden, jede Institution errichtet Mauern aus Curricula, jede Tradition zementiert sich in Dogmen ein. Das Wissen gerinnt zu Besitzstand, Erkenntnis wird Kapital, Weisheit degeneriert zum Zertifikat. Wo alles fixiert ist, kann nichts mehr fließen.
Die Tiānwèn Akademie existiert als Gegenimpuls zu dieser Verkrustung des Denkens. Unser Name – Himmelsfragen – markiert das Programm: Jede Antwort gebiert neue Zweifel, jede Lösung öffnet tiefere Rätsel, jeder Horizont verschiebt sich beim Näherkommen. Wir lehren das Vergessen vor dem Lernen, kultivieren Unwissenheit als Kernkompetenz, praktizieren Desorientierung als Methode.
II. Neo-Daoismus als praktische Lebenskunst
Ziel der Akademie ist die Erforschung und Förderung eines Neo-Daoismus, entschlackt von religiösen Ummantelungen. Wir kehren zurück zu den philosophischen Texten – Laozi, Zhuangzi, Liezi – und extrahieren daraus eine praktische Lebenskunst für die Gegenwart. Statt esoterischer Mystifizierung, völkischer Aufladung oder kultureller Exotisierung entwickeln wir Denktechniken, Körperpraktiken, Existenzweisen, die sich als Instrumente der Gegenwartsanalyse bewähren.
Dem Neo-Daoismus zur Seite steht das Wilde Denken – jene vorwissenschaftliche, konkrete Intelligenz, die in Mustern statt Begriffen operiert, in Resonanzen statt Kategorien, in Analogien statt Syllogismen. Wir spüren dieser anderen Logik nach, ohne uns in Vergangenheit zu verfangen, ohne primitivistische Romantik. Das Wilde Denken bleibt zeitlos verfügbar – überall dort, wo Erkenntnis durch Bricolage entsteht, durch spielerisches Kombinieren vorhandener Elemente, durch Aufmerksamkeit für das Konkrete.
Der Neo-Daoismus funktioniert als Werkzeug zur Dekonstruktion. Er zeigt, dass Denken auch prozessual statt substanziell operieren kann, dass Wissen sich in Körpern sedimentiert statt in Texten, dass Weisheit eher im Nachlassen von Absicht emergiert als in ihrer Intensivierung. Das Dao bleibt unsagbar, aber Taiji macht es bewegbar, Qigong spürbar, Narration erzählbar.
Diese post-westliche Wendung arbeitet an der Dekolonisierung des Denkens. Die europäische Aufklärung hat universelle Geltung beansprucht – und dabei ihre eigene Partikularität unsichtbar gemacht. Rationalität wurde Singular, Wissenschaft zur einzigen Erkenntnisform, der kartesianische Dualismus zum unhinterfragbaren Fundament. Wer anders denkt, gilt als vormodern, als irrational, als rückständig.
Wir setzen dem eine chinesische Kosmologie entgegen – gedankliche Wanderschaft, die andere Epistemologien ernst nimmt. Indigene Wissensformen, taoistische Philosophie, animistische Weltbilder werden als gleichberechtigte Rationalitäten behandelt. Wir operieren aus der Position des reflektierten Westlers, der seine eigene kulturelle Prägung als eine unter vielen begreift und seine Fremdheit produktiv macht.
III. Somatische Wissensformen – und darüber hinaus
Verkörpertes Wissen entzieht sich dem akademischen Zugriff – weniger aus Mystik als aus struktureller Ignoranz der Diskursivität. Was sich propositional kaum formulieren lässt, fällt aus dem Curriculum. Was keine Prüfung übersteht, zählt nicht als Kompetenz. Der Körper als Medium der Erkenntnis? Randphänomen der Phänomenologie, ansonsten irrelevant.
Wir nehmen leibliches Verstehen ernst, reduzieren es aber nicht auf einzelne Praktiken. Taijiquan und Qigong eignen sich als Beispiele, weil sie jene Rationalität verkörpern, die westliche Philosophie systematisch übersieht – Bewegungen, die durch Erspüren lehren, durch Resonanz, durch gravitative Attraktion statt kognitive Kontrolle. Das Prinzip manifestiert sich vielfältig: Performance, Tanz, rituelle Handlung, kontemplative Gesten.
Diese somatischen Zugänge öffnen Türen zu umfassenderen Konzepten des Lernens. Die dérive – situationistische Umherschweifung als Methode der Erkenntnis – übersetzt das Prinzip ins Urbane, ins Soziale, ins Diskursive. Wo körperliche Praxis den Leib driften lässt bis zur Resonanz, lässt die dérive das Denken driften bis zur Situation. Beide folgen derselben Logik: Geschehenlassen statt Erzwingen, Aufmerksamkeit für emergente Muster, Verzicht auf vorgefertigte Routen.
In der Akademie löst sich die Trennung zwischen Lehrenden und Lernenden auf. Alle sind zugleich Gebende und Empfangende, Wissende und Unwissende, Meister und Anfänger. Die drei Grundprobleme zeigen sich universell – der Drang, schnell zu werden vor dem Langsamwerden, stark vor dem Weichwerden, zu verstehen vor dem Verlernen. Unsere Pädagogik der Entleerung arbeitet dagegen: Wu Wei als Prinzip, wo Kompetenz emergiert, sobald Absicht nachlässt. Das überträgt sich auf Textproduktion (automatisches Schreiben), auf Begegnung (Improvisation), auf theoretische Arbeit (assoziatives Denken), auf künstlerische Praxis (ritualisierte Handlungsformen). Die Methoden variieren, das Prinzip bleibt.
IV. Narration als Heilung
Erzählen transformiert den Erzählenden wie das Erzählte – es geht um mehr als Repräsentation. Schamanentumische Traditionen wussten das immer: Die Geschichte heilt durch ihre Artikulation, formt Welt durch ihre Weitergabe, stiftet Sinn durch ihre Iteration. Wir säkularisieren diese Praxis, befreien sie von völkischen Aufladungen und esoterischer Theatralik.
In der Akademie verschränken sich Narration, Meditation und somatische Aufmerksamkeit zu einer Sakralpragmatik – spirituelle Techniken für weltliche Zwecke funktionalisiert. Das kleine Format, die einfache Geste prägt unsere Praxis: Markierungen in urbanen und natürlichen Landschaften, Skizzen, Notizen, mündliche Überlieferungen, Mikrohandlungen, Fragmente, Gespräche, Blogs und Newsletter. Wir orientieren uns an indigenen Wissensformen – Zeichen im Sand, die mit dem Wind verfliegen, Erkenntnisse, die sich im Boden einschreiben und wieder verwittern. Keine Ewigkeitsansprüche, keine Marktkompatibilität, keine institutionelle Vereinnahmung. Die Erzählung bleibt ephemer, wandelbar, im Fluss.
V. Institutionelle Ambivalenz
Wir gründen eine Akademie, die sich permanent selbst in Frage stellt – ein Ouroboros der intellektuellen Redlichkeit. Gleichzeitig Zentrum und Peripherie, Tempel und Marktplatz, Kloster und Laboratorium. Diese Widersprüche lösen wir nicht auf, wir bewohnen sie produktiv. Das entspricht der daoistischen Logik: Wu Wei wirkt durch Nicht-Eingreifen, De entfaltet Potenz durch Nicht-Performance, Ziran lässt geschehen statt zu konstruieren.
Die Akademie versteht sich als Teil einer Gedanken-Allmende. Was hier entsteht – Einsichten, Praktiken, Texte, Bilder – gehört niemandem und allen. Wir operieren nach den Prinzipien der Gabenökonomie: Wissen zirkuliert, ohne zur Ware zu werden. Es mehrt sich durch Weitergabe, gewinnt Wert durch Verwendung, bleibt lebendig durch Transformation.
Diese Ökonomie der Gabe steht quer zum akademischen Betrieb mit seinen Publikationszwängen, Zitierkartellen und Verwertungslogiken. Sie steht ebenso quer zum Esoterik-Markt mit seinen Zertifikaten, Lizenzen und proprietären Methoden. Die Allmende braucht keine Eigentumsrechte – sie gedeiht durch Commons, durch geteilte Ressourcen, durch reziproke Praxis.
Die Geschichte künstlerischer Institutionsgründungen – von Beuys‘ Freier Hochschule über die alternativen Kunstschulen der 1990er bis zu zeitgenössischen Projekten – zeigt ein Muster: anfängliche Euphorie, graduelle Verhärtung, schließlich Erstarrung oder Auflösung. Wir rechnen mit unserem eigenen Scheitern. Die institutionelle Vergänglichkeit gehört zum Konzept, wie der Tod zum Leben. Was zusammenbricht, bricht zusammen – ohne Tragödie, lediglich als nächste Phase im ewigen Prozess.
VI. Globale Dezentralität
Die Akademie ist kein physischer Ort, sondern ein Netzwerk von Begegnungen. Sie materialisiert sich temporär – im metalabor, bei Retreats in verschiedenen Landschaften, in urbanen Zwischenräumen, überall dort, wo sich Menschen versammeln, um Fragen zu stellen statt Antworten zu erzwingen. Keine permanente Infrastruktur, keine institutionellen Gebäude, keine territorialen Ansprüche. Die Akademie existiert im Vollzug, verschwindet in der Pause, entsteht neu in der nächsten Zusammenkunft.
Diese nomadische Struktur unterläuft Hierarchien zwischen Metropole und Provinz, zwischen Zentrum und Peripherie. Retreats, Lectures, Workshops an wechselnden Orten folgen dem Prinzip der Wanderschaft statt der Ansiedlung.
Gehen und Wandern prägen unser Verständnis von Erkenntnis. Die europäische Tradition der Wanderschaft – von den mittelalterlichen Wandergesellen über die romantischen Naturphilosophen bis zu den situationistischen Dérives – verschränkt sich hier mit einem animistischen Weltbild, das alle Lebewesen als Wandernde begreift. Migration wird zum Grundprinzip des Lebendigen. Nomadisches Denken meint: keine Sesshaftigkeit in Positionen, keine territoriale Fixierung von Wahrheit, keine Grenzziehung zwischen Heimat und Fremde.
Die Akademie praktiziert Bleibefreiheit – das Recht zu gehen wie das Recht zu bleiben, ohne Zwang zur Bewegung, ohne Zwang zur Verwurzelung. Diese Freiheit erstreckt sich auf Ideen, Praktiken, Menschen. Was bleiben will, bleibt. Was weiterziehen muss, zieht weiter. Sesshafte und Nomaden finden hier temporäre Gemeinschaft, ohne dass eine Lebensweise zur Norm erhoben wird.
Die 48-Stunden-Formate des metalabors setzen wir fort: temporäre Verdichtungen, intensive Begegnungen, dann Auflösung. Keine festen Curricula, keine standardisierten Abläufe, keine reproduzierbaren Module. Jede Session emergiert aus der Konstellation ihrer Teilnehmenden, aus den Fragen, die gerade drängen, aus den Praktiken, die im Moment Energie tragen.
VII. Gegen den Schamanismus, für Schamanentum
Wolf-Dieter Storl unterscheidet präzise: Schamanentum meint lebendige Überlieferung spiritueller Techniken, Schamanismus deren Verflachung zu konsumierbarem Lifestyle-Junk. „Meistens ist es nur das bedürftige, sterbliche Ego, das sich Federn an den Hut stecken, trommeln, tanzen und als Heiler hervortreten will.“ Diese Perversion authentischer Praktiken – Schamanismus als Hobby für entwurzelte Zeitgenossen – produziert seelisches Fast Food statt transformativer Erfahrung.
Unsere Praxis folgt dem Prinzip des authentischen Schamanentums: jahrzehntelange Übung, systematische Lebensführung, Integration archaischer Techniken in säkulare Kontexte. Keine esoterische Verbrämung, keine spektakulären Gesten, keine völkische Mystifikation. Bewusstseinsexpansion durch methodische Vertiefung – nicht durch Trommelkreise und Federschmuck, sondern durch kontinuierliche somatische Praxis, durch narrative Selbstbeobachtung, durch geduldiges Kultivieren von Aufmerksamkeit. Postideologische Spiritualität ohne Kitsch.
VIII. Die Drei Vollendungen, neu gedacht
Die klassische chinesische Lehre forderte Meisterschaft in Poesie, Kalligrafie und Malerei. Wir reformulieren das als Durchlässigkeit zwischen Ausdrucksebenen: Verkörpertes Wissen (Taiji, Qigong, Performanz) verschränkt sich mit narrativen Verfahren (Storytelling, automatisches Schreiben, kollektive Mythenbildung) und theoretischer Reflexion (philosophische Seminare, Textarbeit, konzeptuelle Destillation). Diese Modi stehen nicht hierarchisch zueinander – sie informieren einander wechselseitig, durchdringen sich, konvergieren material.
Diese Trias praktiziert die Ästhetik des Unvollendeten: Jede Ebene bleibt offen für Ergänzung durch die anderen, keine schließt sich ab zur autonomen Disziplin. Der Körper denkt mit, die Narration bewegt, die Theorie atmet. Materielle Konvergenz als Basis für semantische Verschmelzung.
IX. Negative Epistemologie
Westliche Wissenschaft akkumuliert Wissen kumulativ – jede Generation baut auf der vorherigen auf, der Erkenntnisfortschritt scheint linear. Wir praktizieren das Gegenteil: Jede Antwort öffnet neue Ungewissheiten, jede Einsicht destabilisiert frühere Gewissheiten, jeder Fortschritt bedeutet zugleich Rückschritt ins Nichtwissen.
Das demütige Erkennen der eigenen Unwissenheit – Tiānwèn als Programm – wird zur Methode. Wir lehren Frageformen statt Fakten, Problemsensibilität statt Lösungen, permanentes Anfängertum statt Meisterschaft. „Immer Anfänger, ewig Anfänger in der unendlichen Schule des Seins“ – Konsequenz aus unserem Verständnis von Wissen.
Die Akademie fördert die Fähigkeit, Muster wahrzunehmen, zu artikulieren und daraus Einsicht zu generieren – durch achtsames Beobachten von Relationen, Resonanzen, wiederkehrenden Konfigurationen. Verstehen entsteht im Nachzeichnen von Verbindungen: zwischen Körper und Kosmos, zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen individueller Erfahrung und kollektiven Strukturen. Diese Form des Musterdenkens operiert prozessual, kontextsensitiv, ohne universalistische Ansprüche. Sie bleibt wandelbar, weil die Muster selbst sich wandeln.
X. Politische Geste
Die Gründung der Akademie vollzieht eine Intervention ins Wissen. In einer Zeit von Beschleunigung und Verhärtung praktizieren wir Verlangsamung als Widerstand. Wo algorithmische Plattformen Aufmerksamkeit fragmentieren, kultivieren wir somatische Präsenz. Wo Diskurse sich radikalisieren, etablieren wir Räume der Selbstbefragung.
Diese Öffnung geschieht ohne Affirmation bestehender Strukturen. Die Akademie unterliegt permanenter Selbstkritik, dekonstruiert sich kontinuierlich. Die Verschränkung körperlicher Praktiken mit philosophischer Reflexion fördert Behutsamkeit, innere Balance, reflexive Kapazität – Qualitäten, die politische Dringlichkeit besitzen, wenn Komplexitätsreduktion zur Staatsräson wird.
Die Demokratisierung alternativer Wissensformen erweitert den Horizont des Denkbaren. Neo-Daoismus, entlastet von völkischen Aufladungen, befreit von esoterischer Mystifizierung, gesäubert von kultureller Exotisierung – verfügbar als kritisches Werkzeug der Gegenwartsanalyse. Denkformen zugänglich machen, die das westliche Rationalitätsmonopol unterlaufen, ohne in Irrationalismus zu verfallen. Widerstand durch Praxis, Subversion durch Methode.
XI. Einladung ins Offene
Die Tiānwèn Akademie definiert sich über Prozess, Offenheit, Transformationsbereitschaft. Menschen kommen aus der ganzen Welt, um Fragen zu stellen statt Antworten zu erzwingen, um Unwissen zu kultivieren statt Wissen zu erwerben, um Anfänger zu bleiben statt Meister zu werden.
Wir sind weder Kunstinstitution noch spirituelles Zentrum, weder Denkfabrik noch Wellness-Retreat. Wir sind all dies zugleich und keines davon vollständig – eine Institution im Modus des Sowohl-als-auch, die ihre Identität in der permanenten Selbstbefragung findet.
Die Erforschung und Förderung des Neo-Daoismus, die vielfältigen somatischen Praktiken, bildgebende Verfahren von der Fotografie bis zur Markierung im Sand, die wechselseitige Weitergabe von Einsichten – all diese Aktivitäten sind Facetten einer umfassenden künstlerischen Forschung, die nach neuen Formen des Zusammenlebens, des Wissens, des Handelns sucht. Ein Raum, in dem westliche und östliche Traditionen weder synkretistisch verschmelzen noch hierarchisch geordnet werden, sondern in produktive Spannung zueinander treten.
Ein Raum der Zwischenfragen, der Zweifel, der Unsicherheiten – ein Raum, der sich dem Imperativ der Eindeutigkeit verweigert und dadurch seine künstlerische und politische Potenz gewinnt.
Wer kommen will, komme. Wer bleiben will, bleibe. Wer gehen muss, gehe.
Die Form öffnet sich beim Üben, der Weg entsteht beim Gehen, die Akademie wird beim Hinterfragen.
Der Weg liegt unter den Füßen
天問 | Tiānwèn Akademie | 2024/2025
